«Genug, um einen für den Rest des Lebens abzuschrek-ken«, sagte ich.
«Genau. Das ist der Witz dabei. Mr. Franklin konnte die Formeln so gut lesen wie Wörter, und ich habe mich inzwischen auch an sie gewöhnt. Niemand außer ihm und mir handhaben die Steine hier drinnen. Wir packen sie mit eigner Hand in kleine Schächtelchen und versiegeln diese, bevor sie zu Alfie in den Versand gehen. «Sie blickte die Reihe der Etiketts entlang und tat ihr Bestes, mich aufzuklären.»Wir verkaufen diese Steine zu einem auf dem Karat basierenden Preis. Ein Karat sind 200 Milligramm, das heißt fünf Karat sind ein Gramm, 142 Karat eine Unze und 5000 Karat ein Kilo.«
«Langsam, langsam«, bat ich.
«Sie sagten doch, daß Sie schnell lernen.«
«Geben Sie mir ein oder zwei Tage.«
Sie nickte und meinte, daß sie sich, wenn ich sie nicht mehr brauchte, lieber wieder den Büchern zuwenden würde.
Die Bücher, dachte ich, und mir wurde ganz mulmig. Mit ihnen hatte ich mich noch gar nicht befaßt. Ich erinnerte mich an die Freude, mit der ich der Universität von Lancaster, an der ich den Studiengang» Independent Stu-dies «belegt hatte, nach den Abschlußexamina den Rücken gekehrt und mir geschworen hatte, mich nie wieder in meinem Leben nur aus Pflicht in irgendwelche Bücher zu vertiefen. Statt dessen war ich (den schriftlich geäußerten Wünschen meines Vaters zuwider) auf geradem Wege zu einem Steeplechase-Stall geeilt, wo ich eine ganze Reihe von Tagen als Amateur herumgehangen hatte. Es stimmte schon, daß ich auf dem College schnell gelernt hatte, dies aber vor allem deshalb, weil ich dazu gezwungen gewesen war. Oft genug hatte ich die halbe Nacht durchgearbeitet und war so dem väterlichen Mahnschreiben wenigstens teilweise gerecht geworden. Er hatte gehofft, daß ich der Verführung, die Pferderennen, wie er wohl wußte, für mich bedeuteten, langsam entwachsen würde, aber sie waren und blieben alles, was ich je gewollt hatte — ich wäre nie und nimmer imstande gewesen, mich irgend etwas anderem zuzuwenden. Das hätte, langfristig gesehen, doch keinerlei Zukunft, hatte er mir geschrieben. Außer der Tatsache, daß es an jeder finanziellen Sicherheit fehle, gebe es da auch noch das fortwährende Risiko der Invalidität.»Ich bitte Dich, vernünftig zu sein«, hatte er geschrieben,»Dir die Sache noch mal genau durch den Kopf gehen zu lassen und Dich dagegen zu entscheiden.«
Da hatte er Pech gehabt!
Seufzend hing ich dem Gedanken nach, daß ich in jenen Tagen noch mit solcher Leichtigkeit so sicher hatte sein können. Und doch würde ich, könnte ich noch einmal von vorne beginnen, alles wieder ganz genauso machen. Das Rennreiten hatte mir tiefste Erfüllung gebracht, und wenn mein Geist gealtert war, dann deshalb, weil dies das Leben so mit sich brachte. Enttäuschungen, Ungerechtigkeiten, kleine Treuebrüche — das waren Dinge, die allen Menschen widerfuhren. Ich erwartete nicht mehr, daß immer alles glatt ginge, aber es war doch bislang stets glatt genug gegangen, um mich im Gleichgewicht der Zufriedenheit zu halten.
Ohne das Gefühl, daß mir die Welt etwas schuldig geblieben sei, unterzog ich mich der gerade anstehenden, langweiligen Aufgabe, jeden Umschlag in jeder Pappschachtel zu öffnen — auf der Suche nach kleinen Stückchen reinen Kohlenstoffs. Es war keineswegs so, daß ich die Diamanten dort zu finden hoffte, sondern es wäre mir nur dumm erschienen, nicht nachzuschauen — für den Fall, daß sie vielleicht doch dort waren.
Ich arbeitete mich methodisch voran, stellte den jeweils untersten Pappkarton auf das Regalbrett, das an der rechten Wand angebracht war, und faltete dann das steife weiße Papier mit dem weichen Innenfutter auf, um mir unzählige Peridote, Chrysoberylle, Granate und Aquamarine anzuschauen, bis sich mir alles im Kopf drehte. Ich hörte schließlich wieder auf, obwohl ich erst etwa ein Drittel der Bestände durchgesehen hatte, denn abgesehen von dem im Tresorraum herrschenden Sauerstoffmangel war es für mich ungemein ermüdend, die ganze Zeit auf einem Bein stehen zu müssen, waren die Krücken hier doch nur teilweise hilfreich und ebensooft im Weg. Ich faltete den letzten Umschlag mit XY3Z6[(O, OH, F)4(BO3)3Si6O18] (Turmalin) zusammen und ließ es für heute gut sein.
«Was haben Sie in Erfahrung gebracht?«fragte Annette, als ich wieder in Grevilles Büro erschien. Sie sortierte dort noch immer Papiere in die Fächer ein, in die sie gehörten, ein Tun, das sich aber offensichtlich seiner Vollendung näherte.
«Genug, um Juwelierläden mit ganz anderen Augen zu sehen«, sagte ich.
Sie lächelte.»Wenn ich eine Illustrierte lese, schaue ich mir nicht die Kleider der Leute an, sondern den Schmuck.«
Das paßte zu ihr. Ich dachte, daß es mir von nun an, mir selbst zum Trotz, leicht genauso gehen könnte. Ich würde obendrein vielleicht auch noch eine Vorliebe für Manschettenknöpfe aus schwarzem Onyx entwickeln.
Es war jetzt vier Uhr nachmittags an diesem allem Anschein nach sehr langen Tag. Ich besah mir das Rennprogramm in Grevilles Taschenkalender, kam zu dem Schluß, daß Nicholas Loder die Rennen in Redcar, Warwick und Folkestone sehr wohl ausgelassen haben könnte, und wählte seine Nummer. Seine Sekretärin meldete sich — ja, Mr. Loder sei zu Hause, und ja, er sei für mich zu sprechen.
Dann meldete er sich und dies fast gänzlich ohne jene Erregung, die er am gestrigen Abend gezeigt hatte, denn diesmal waren die Schwingungen der Baßtöne ganz deutlich durch den Draht zu hören.
«Ich habe mit Weatherby und dem Jockey Club gesprochen«, sagte er ganz entspannt,»und glücklicherweise gibt’s keinerlei Probleme. Sie sind dort auch der Ansicht, daß vor der Testamentsanerkennung die Pferde weiterhin der Firma Saxony Franklin und nicht Ihnen gehören, und sie werden sie nicht für die Rennen sperren, wenn sie unter diesem Besitzer laufen.«
«Gut«, sagte ich und war ein wenig überrascht.
«Sie haben natürlich auch darauf hingewiesen, daß es zumindest einen registrierten, von der Firma beauftragten Bevollmächtigten geben muß, der für die Pferde verantwortlich zeichnet, wobei diese Vollmacht mit dem Siegel der Firma versehen und bei Weatherby eingetragen sein muß. Nun hat Ihr Bruder sich selbst und mich als registrierte Bevollmächtigte eingesetzt, und unabhängig von seinem Tod bleibe ich das und bin befugt, selbständig im Namen der Firma zu handeln.«»Ah!«sagte ich.
«Und da dem so ist«, sagte Loder befriedigt,»nimmt >Do-zen Roses< wie vorgesehen an dem Rennen in York teil.«
«Und wird gut laufen?«
Er kicherte.»Das wollen wir hoffen.«
Dieses Kichern, dachte ich, war Ausdruck der größten Zuversicht.
«Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie in Zukunft Saxony Franklin darüber informieren würden, wo die Pferde jeweils laufen sollen«, sagte ich.
«Ich habe Ihren Bruder immer persönlich verständigt und ihn unter seiner Privatnummer angerufen. Das kann ich in Ihrem Falle kaum tun, da Sie nicht der Besitzer der Pferde sind.«
«Nein«, stimmte ich ihm zu.»Ich meinte auch, ob Sie bitte die Firma unterrichten würden. Ich gebe Ihnen die Nummer. Fragen Sie dann bitte nach Mrs. Annette Adams. Sie war Grevilles Stellvertreterin.«
Er konnte das nicht gut ablehnen, und deshalb sagte ich ihm die Telefonnummer, die er wiederholte, während er sie sich notierte.
«Vergessen Sie aber nicht, daß bei den Flachrennen die Saison nur noch einen Monat dauert«, sagte er.»Die Pferde werden also wahrscheinlich jedes nur noch einmal laufen. Im Höchstfall zweimal. Danach verkaufe ich sie dann für Sie, was wohl die beste Lösung wäre. Kein Problem, überlassen Sie das nur mir.«
Was er da sagte, war zwar vernünftig, aber ganz unvernünftigerweise hatte ich doch etwas gegen seine Eile.
«Ich muß als Testamentsvollstrecker meines Bruders jedem Verkauf zustimmen«, sagte ich und hoffte, daß ich recht damit hatte.»Vorher.«»Ja, ja, natürlich. «Ermutigende Herzlichkeit.»Ihre Verletzung«, sagte er dann,»wie sieht die genau aus?«