Er nickte mir kurz zu und ging davon, während ich an dem hohen Stadthaus emporblickte, in das Greville erst vor etwa drei Monaten eingezogen war und das ich noch nie betreten hatte. Es hatte einen hellgrauen Anstrich, an-sprechende Proportionen, eine Treppe mit Balustrade, die zu der schwarzen Haustür hinaufführte, und irgendwie nüchtern-geschäftsmäßig, zugleich aber auch dekorativ wirkende Eisengitter hinter dem Glas aller Fenster zwischen Kellergeschoß und Dach.
Ich durchquerte den grasbewachsenen Vorgarten, stieg die Treppenstufen hinauf und entdeckte, daß die Haustür mit drei Schlössern gesichert war. Leise schimpfend zog ich Grevilles eine halbe Tonne wiegenden Schlüsselbund hervor und gelangte dank beharrlichen Probierens endlich in seine Festung hinein.
Die Spätnachmittagssonne schien schräg und gelblich in ein langgestrecktes Wohnzimmer, das sich auf der linken Seite des Hausflurs befand, und warf das Muster der Gitterstäbe als Schatten auf den graubraunen Teppichboden. Die Wände, blaß lachsfarben gehalten, schmückten farbenfrohe Bilder mit den Glasfenstern von Kathedralen, und der Bezugsstoff von Sesseln und Sofas zeigte ein grobes Fischgrätmuster in dunkelbraun und weiß — recht verwirrend für die Augen. Ich stellte mir traurig die Frage, ob dies alles Grevilles eigenen Geschmack wider spiegelte oder ob er es vom Vorbesitzer des Hauses übernommen hatte. Ich wußte nur, was ihm in bezug auf Kleidung, Essen, technische Apparaturen und Pferde gefiel. Und das war nicht sehr viel. Nicht genug.
Das Wohnzimmer war sehr ordentlich und sauber — unbewohnt. Ich kehrte in den Hausflur zurück, von dem aus Treppen nach oben und unten führten. Aber bevor ich mich ihnen zuwandte, ging ich erst einmal durch eine Tür im rückwärtigen Teil des Flurs und in ein sehr viel kleineres Zimmer, in dem ein anheimelndes Durcheinander von Büchern, Zeitschriften, Zeitungen, schwarzen Ledersesseln, Uhren, Chrysanthemen im Topf, einem Tablett mit Trinkbarem und gerahmten mittelalterlichen Reiberdruk-ken auf tiefgrünen Wänden herrschte. Dies war ganz und gar Greville, dies war sein Zuhause.
Ich verließ den Raum erst einmal wieder und hopste die Treppe hinab in das Zwischengeschoß, in dem sich eine Schlafkammer befand, die unbenutzt war, ferner ein kleines Bad, ein ganz nach Innenarchitekt aussehendes Eßzimmer, durch dessen vergitterte Fenster man auf den Garten hinter dem Haus schaute, und daneben eine makellos saubere, etwas enge Küche.
Am Kühlschrank war mit einer magnetischen Erdbeere ein Zettel angeheftet.
Lieber Mr. Franklin, ich wußte nicht, daß Sie an diesem Wochenende weg sein würden. Ich habe alle Zeitungen gebracht, sie liegen im Hinterzimmer. Sie haben Ihre Wäsche nicht rausgelegt, deshalb konnte ich nichts mitnehmen. Danke für das Geld. Bin wie üblich Dienstag wieder da.
Mrs. P.
Ich sah mich nach einem Bleistift um, fand einen Kugelschreiber, zog den Zettel unter der Magneterdbeere hervor und schrieb auf seine Rückseite die Bitte an Mrs. P., sie möge doch die folgende Nummer (die von Saxony Franklin) anrufen und nach Derek oder Annette fragen. Ich unterschrieb nicht, sondern steckte den Zettel zurück an seinen alten Platz, wo er, wie ich annahm, eine weitere Woche hängen würde — eine traurige Nachricht in Warteposition.
Ich sah in den Kühlschrank, der nur wenig enthielt — bloß Milch, Butter, Weintrauben, eine Schweinefleischpastete und zwei Flaschen Champagner.
Diamanten in den Eiswürfeln? Ich glaubte nicht, daß er sie an einem so riskanten Ort verstecken würde, denn er war ja schließlich sicherheitsvernarrt und nicht verrückt.
Ich schleppte mich wieder nach oben in den Flur und dann weiter hinauf in die nächste Etage, in eine aus Schlafzimmer und Bad bestehende Suite in selbstbewußtem Schwarz-weiß. Dort hatte Greville geschlafen, denn die Schränke und Kommoden enthielten seine Sachen, das Bad seine Privatsphäre. Er war, was seine diesbezügliche Habe anbetraf, sehr sparsam gewesen und hatte nur wenige Paar Schuhe, ein paar weiße Hemden auf Bügeln, sechs verschiedene Anzüge und einen Halter voller Seidenkrawatten hinterlassen. In den Schubladen lagen fein säuberlich Pullover, Freizeithemden, Unterwäsche und Socken. Unsere Mutter wäre stolz auf ihn gewesen, dachte ich lächelnd. Sie hatte mit allen Mitteln und gänzlich erfolglos versucht, uns beide zur Ordentlichkeit zu bekehren, und es sah ganz so aus, als hätten wir uns da mit zunehmendem Alter doch gebessert.
Es gab nicht sehr viel mehr zu sehen. Die Schublade im Nachttisch wies Tabletten gegen Verdauungsbeschwerden, eine Taschenlampe und ein Taschenbuch von John D. MacDonald vor. Keine Spielsachen und keine Karte für Schatzsucher.
Mit einem Seufzer betrat ich den einzigen sonst noch auf dieser Etage befindlichen Raum. Er war unmöbliert und mit schreiend metallisch-silbrigen Rosen tapeziert, die an einer Stelle heruntergerissen worden waren. So viel zu den Künsten des Innenarchitekten.
Von diesem Stockwerk aus führte wiederum eine Treppe noch weiter nach oben, aber ich stieg sie nicht hinauf. So, wie die Sache aussah, würde ich dort wohl nur noch unbenutzte Zimmer finden, und die würde ich, so nahm ich mir vor, erst genauer in Augenschein nehmen, wenn das Treppensteigen nicht mehr gar so mühsam war. Es schien so, als ob sich alles, was in diesem Hause von wirklichem Interesse war, in dem kleinen hinteren Wohnzimmer befände, weshalb ich lieber dorthin zurückkehrte.
Ich setzte mich ein Weilchen in den Stuhl, der ganz eindeutig Grevilles Lieblingsplatz gewesen war, denn von dort aus konnte er das Fernsehgerät sehen, aber auch einen Blick in den Garten werfen. Es ging mir durch den Kopf, daß man Orte, die andere Menschen für immer verlassen haben, mit ihren Augen sehen sollte. Greville war in diesem Zimmer noch sehr gegenwärtig — und auch in mir.
Neben seinem Sessel stand ein kleines antikes Tischchen und auf seiner polierten Platte ein Telefon mitsamt einem Anrufbeantworter. Ein rotes Lämpchen zeigte strahlend an, daß Gespräche eingegangen waren, und deshalb drückte ich nach einer Weile auf den Knopf, auf dem REWIND stand, dann auf den mit PLAY.
Die Stimme einer Frau sagte, auf jede Vorrede verzichtend:»Liebling, wo steckst du denn? Bitte ruf mich an.«
Es folgten mehrere klickende Geräusche, dann war wieder die gleiche Stimme zu hören, diesmal übervoll von Besorgtheit.
«Bitte, bitte ruf an, Liebling. Ich mache mir solche Sorgen. Wo bist du, Liebling? Bitte ruf mich an! Ich liebe dich.«
Wieder ein Klicken, aber keine weiteren Botschaften.
Arme Frau, dachte ich. Schmerz und Tränen standen auf Abruf für sie bereit.
Ich stand wieder auf, um mir das Zimmer noch etwas genauer anzuschauen, und blieb vor zwei Schubfächern in einem Tisch neben dem Fenster stehen. Darin fand ich zwei schmale, schwarze, nicht identifizierbare Geräte, die mich verwirrten und die ich in die Tasche steckte, ferner ein mit Schlitzen versehenes Brettchen, in denen eine recht hübsche Sammlung kleiner Bären steckte, aus dunkelrosa, braunem und schwarzem Stein gefertigt und poliert. Ich stellte das Brett auf den Tisch neben ein paar Chrysanthementöpfe und stieß als nächstes auf ein Kästchen, das aus grünem Stein gemacht, ebenfalls glänzend poliert und — getreu der Gewohnheit Grevilles — fest verschlossen war. Ich überlegte, ob vielleicht einer der Schlüssel passen würde, und zog den Bund wieder aus der Tasche, um zunächst den kleinsten auszuprobieren.
Ich stand dem Fenster zugewandt, mit dem Rücken zum Zimmer. Auf einem Bein balancierend, mit der Hüfte gegen den Tisch gelehnt und den Armen nicht auf den Krük-ken, war ich ganz mit meiner Untersuchung des Kästchens befaßt und von sträflicher Unachtsamkeit. Ich bemerkte erst, daß außer mir noch jemand im Haus war, als ich hinter mir einen gedämpften Ausruf vernahm und, mich umdrehend, eine dunkelhaarige Frau durch die Tür hereinkommen sah, den wilden Blick starr auf das grüne Steinkästchen geheftet. Ohne innezuhalten kam sie schnell auf mich zu, wobei sie einen schwarzen, wie eine lange, dicke Zigarre aussehenden Gegenstand aus der Tasche zog.