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«Wo sind Ihre Briefe?«fragte ich.

Sie schaltete eine Tischlampe ein. Die durch den Garten herankriechende Abenddämmerung vertiefte sich abrupt, und ich wünschte, sie würde sich beeilen, denn ich wollte nach Hause.

Sie blickte zu dem Bücherregal, das fast eine ganze Wand des Zimmers einnahm.

«Dort, glaube ich. In einem Buch.«

«Dann fangen Sie mal zu suchen an. Das kann doch die ganze Nacht dauern.«

«Sie müssen nicht warten.«

«Ich denke aber, daß ich es trotzdem tun werde«, sagte ich.

«Vertrauen Sie mir etwa nicht?«wollte sie wissen.

«Nein.«

Sie blickte mich fest an.»Und warum nicht?«

Ich sagte ihr nicht, daß ich wegen der Diamanten überhaupt niemandem traute. Ich wußte nicht, wen ich gefahrlos bitten konnte, nach ihnen Ausschau zu halten, oder wer sie suchen würde, um sie zu stehlen, wenn er erst Kenntnis davon hatte, daß es sie möglicherweise gab.

«Ich kenne Sie ja gar nicht«, sagte ich unverbindlich.

«Aber ich…«Sie brach ab und zuckte die Achseln.»Ich nehme an, daß ich Sie wohl auch nicht kenne. «Sie trat zum Bücherregal.

«Ein paar von diesen Büchern sind innen hohl«, sagte sie.

O Greville! dachte ich. Wie sollte ich je etwas von dem finden, was er alles versteckt hatte? Ich bevorzugte gerade Wege, er aber hatte einen Kopf gehabt wie ein Labyrinth.

Sie fing an, Bücher aus der Reihe auf dem untersten Regalbrett herauszuziehen und aufzuschlagen. Nicht methodisch Buch für Buch, sondern vor allem, wie mir schien, solche mit vorwiegend blauem Rücken. Nachdem sie eine kleine Weile dort gekniet und Bücher durchgesehen hatte, fand sie ein hohles, das sie mir mit sarkastischer Sorgfalt offen hinhielt, damit ich auch wirklich sehen konnte, daß sie nichts vor mir verbarg.

Das Innere des Buches erwies sich als eine mit blauem Samt bespannte Schachtel, die einen dicht schließenden Deckel hatte, den man an einer kleinen Schlaufe aufziehen konnte. Als sie dies tat, zeigte sich, daß der flache, mit Samt ausgekleidete Innenraum darunter völlig leer war.

Die Achseln zuckend, schob sie den Deckel wieder zu und schloß das Buch, das sofort wieder so aussah wie alle anderen auch, und stellte es ins Regal zurück. Wenig später fand sie erneut ein hohles, das diesmal aber innen rot war. Darin lag ein Briefumschlag.

Sie besah ihn sich, ohne ihn zu berühren, und blickte dann mich an.

«Das sind nicht meine Briefe«, sagte sie.»Ist nicht mein Briefpapier.«

Ich sagte:»Greville hat ein Testament hinterlassen, in dem er seine gesamte Habe mir vermacht.«

Sie schien das nicht ungewöhnlich zu finden, im Unterschied zu mir — er hatte das der Einfachheit halber so geregelt, weil er in Eile gewesen war, hätte es aber, wenn ihm Gelegenheit dazu gegeben worden wäre, später mit Sicherheit wieder geändert.

«Dann schauen Sie besser mal nach, was da drin ist«, sagte sie ruhig, nahm den Umschlag heraus und streckte sich, um ihn mir zu reichen.

Der Umschlag, der nicht zugeklebt war, enthielt nur einen verzierten Schlüssel, der etwa zehn Zentimeter lang und dessen obere Hälfte in einer Weise abgeflacht und durchbrochen war, daß sie wie aus Metall gefertigte Spitze aussah. Der Bart dagegen war sehr schmal und kompliziert gezähnt. Ich legte ihn auf meine Handfläche, zeigte ihn ihr und fragte sie, ob sie wisse, was sich damit öffnen ließe.

Sie schüttelte den Kopf.»Ich habe ihn noch nie gesehen. «Sie schwieg einen Augenblick.»Er war ein Mann der Geheimnisse«, sagte sie.

Ich hörte die Wehmut in ihrer Stimme. Sie mochte sich ja in diesem Augenblick eisern beherrschen, aber vor Annettes Mitteilung, daß Greville tot sei, war sie dies nicht gewesen. Die Stimme auf dem Band hatte nackte Panik verraten. Annette hatte ihre schrecklichsten Befürchtungen nur noch bestätigt und damit die eskalierende Verzweiflung zu dem werden lassen, was ich als vorgetäuschte Ruhe ansah. Ein Mann der Geheimnisse… Greville hatte sich ihr offensichtlich genauso wenig anvertraut wie mir.

Ich steckte den Schlüssel wieder in den Umschlag und gab ihr diesen zurück.

«Er bleibt fürs erste wohl besser da in seinem Buch«, sagte ich.

«Bis ich ein Schlüsselloch gefunden habe, zu dem er paßt.«

Sie legte den Umschlag mit dem Schlüssel in das Buch und stellte dieses ins Regal. Nach nicht allzu langer Zeit fand sie dann auch ihre Briefe. Sie waren nicht romantisch mit Bändern umwickelt, sondern wurden höchst prosaisch von einem Gummiband zusammengehalten. Nicht sehr viele, wie es den Anschein hatte, aber sorgfältig aufbewahrt.

Noch immer auf den Knien liegend, blickte sie zu mir auf.»Ich möchte nicht, daß Sie sie lesen«, sagte sie.»Was immer Greville Ihnen hinterlassen hat, die gehören mir, nicht Ihnen.«

Ich stellte mir die Frage, warum es sie wohl so drängte, hier im Haus alle ihre Spuren zu verwischen. Aus reiner Neugier hätte ich die Briefe mit großem Interesse gelesen, wenn ich sie gefunden hätte, aber so konnte ich kaum verlangen, daß sie mir Einblick in ihre Liebesbriefe gewährte… wenn es denn wirklich Liebesbriefe waren.

«Zeigen Sie mir nur ganz schnell eine einzige Seite«, sagte ich.

Ihr Gesicht nahm einen bitteren Ausdruck an.»Sie trauen mir tatsächlich nicht, nicht wahr? Ich möchte nur wissen, warum nicht.«

«Jemand ist am Wochenende in Grevilles Büro eingebrochen«, erwiderte ich,»und ich bin mir nicht sicher, wonach da gesucht wurde.«

«Nicht nach meinen Briefen«, sagte sie mit Entschiedenheit.

«Zeigen Sie mir nur eine einzige Seite«, sagte ich,»damit ich sehe, daß sie auch das sind, was sie nach Ihrer Aussage sein sollen.«

Ich dachte, sie würde dies glattweg ablehnen, aber nach kurzem Nachdenken streifte sie das Gummiband von den Briefen, blätterte sie durch und reichte mir schließlich mit ausdruckslosem Gesicht ein kleines Blatt. Darauf stand:… bis zum nächsten Montag wird mein Leben einer Wüste gleichen. Was soll ich machen? Nach Deiner Umarmung ist er mir zuwider. Es ist schrecklich. Die Kopfschmerzen werden mir knapp. Ich bete Dich an.

C.

Ich reichte ihr den Bogen wortlos zurück, schämte mich, daß ich mich eingemischt hatte.

«Nehmen Sie sie an sich«, sagte ich.

Sie blinkerte ein paarmal mit den Augen, legte das Gummiband wieder um die kleine Sammlung und steckte diese in eine einfache schwarze Lederhandtasche, die neben ihr auf dem Teppich lag.

Ich angelte am Boden nach meinen Krücken, hob sie hoch und stand dann auf, wobei ich mich ganz darauf konzentrierte, wenigstens den Griff der linken richtig festzuhalten, mich aber gleichzeitig nicht zu fest darauf zu stützen. Clarissa Williams sah mir mit einem Anflug von Verlegenheit dabei zu, wie ich zu Grevilles Stuhl hinüberhumpelte.

«Glauben Sie mir«, sagte sie,»mir war wirklich nicht klar… ich meine, als ich hier hereinkam und sah, wie Sie Sachen stahlen… und dachte, daß Sie Sachen stehlen… ich hab die Krücken nicht bemerkt.«

Ich nahm an, daß sie die Wahrheit sagte. Echte Einbrecher liefen nicht holzbeinig herum, und ich hatte meine Stützen ja beiseite gelegt, als sie hereingestürmt gekommen war. Sie war viel zu sehr in Fahrt gewesen, um noch groß Fragen zu stellen — zweifelsohne vorwärts getrieben von Schmerz, Besorgnis und auch Angst vor dem Eindringling. Was alles natürlich in gar keiner Weise meine Auffassung gegenstandslos machte, daß sie Fragen hätte stellen sollen, bevor sie ihren Feldzug startete.