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Ich war schon 28 Jahre alt, als wir uns nach langwährendem Austausch höflicher Weihnachts- und Geburtstagskarten völlig unverhofft auf einem Bahnsteig trafen und während der dann folgenden Fahrt zu Freunden wurden. Auch dann nicht zu engen, viel Zeit miteinander verbringenden Freunden, aber einander doch zugetan genug, um gelegentlich anzurufen oder zusammen essen zu gehen und uns wohl dabei zu fühlen.

Wir waren in ganz verschiedenen Welten aufgewachsen

— Greville in dem stattlichen Londoner Haus, das zu der Tätigkeit unseres Vaters als Manager bei einem der großen Grundbesitzer gehörte, und ich in dem behaglichen Landhaus seines Ruhestandes. Greville war von unserer Mutter in Museen, Galerien und ins Theater mitgenommen worden, ich hatte Ponys geschenkt bekommen.

Wir sahen uns nicht einmal besonders ähnlich. Greville war — wie unser Vater- um die einsachtzig groß, ich etwa zehn Zentimeter kleiner. Grevilles Haar, das nun grau wurde, war hellbraun und glatt gewesen, meines von dunklerem Braun und gelockt. Von der Mutter hatten wir beide die goldbraunen Augen und die guten Zähne, vom

Vater den Hang zur Hagerkeit geerbt, aber unsere Gesichter waren, obwohl beide durchaus gut geschnitten, doch sehr verschieden.

Greville konnte sich am besten an die aktiven Jahre unserer Eltern erinnern, ich war in der Zeit ihrer Krankheit und ihres Sterbens bei ihnen gewesen. Unser Vater war zwanzig Jahre älter als unsere Mutter gewesen, aber sie war vor ihm gestorben, was mir ungeheuer unfair vorgekommen war. Der alte Herr und ich hatten danach noch eine kurze Zeit in tolerantem gegenseitigem Nichtverstehen zusammengelebt, obwohl ich nie daran gezweifelt habe, daß er mich auf seine Art sehr wohl mochte. Er war bei meiner Geburt 62 gewesen und an meinem 18. Geburtstag gestorben, mir ausreichende Mittel für die Fortsetzung meiner Ausbildung und einen Brief voller Ermahnungen und Anweisungen hinterlassend, von denen ich einige befolgt habe.

Grevilles Ruhe war vollkommen. Ich dagegen war unruhig, fühlte mich an meinen Krücken höchst unbehaglich und dachte daran, um einen Stuhl zu bitten. Ich würde ihn nicht noch einmal lächeln sehen, dachte ich — nicht dieses Aufblitzen in den Augen und das Leuchten der Zähne, nicht das schnelle Erfassen des schwarzen Humors dieses Daseins, nicht das Bewußtsein der eigenen Stärke.

Er war Richter, Friedensrichter, und er importierte und verkaufte Schmucksteine. Von diesen nackten Tatsachen einmal abgesehen, wußte ich nur recht wenig von seiner Alltagsexistenz, denn wenn wir zusammengekommen waren, schien er sich stets mehr für mein Tun und Treiben zu interessieren als für das seine. Er besaß auch Pferde — dies von dem Tage an, als er mich angerufen und um meine Meinung gebeten hatte: Einer seiner Schuldner hatte ihm bei Fälligkeit der Schuld statt Geld sein Rennpferd angeboten. Was ich davon hielte. Ich sagte, ich würde zurück-rufen, holte Auskünfte über das Pferd ein, kam zu dem Schluß, daß das ein guter Handel sei, und sagte Greville, er solle auf das Angebot eingehen, wenn er das noch wolle.

«Wüßte nicht, was dagegen spräche«, hatte er erwidert.»Erledigst du den Papierkram?«

Ja, natürlich, hatte ich gesagt, ich würde mich darum kümmern. Es fiel niemandem schwer, den Wünschen meines Bruders zu entsprechen — viel schwerer war es, auch mal nein zu sagen.

Das Pferd hatte ihm hübschen Gewinn gebracht und ihn dadurch zu weiteren Käufen ermutigt, obwohl er nur selten zu den Rennen ging, bei denen seine Pferde liefen. Das war für einen Besitzer durchaus nichts Ungewöhnliches, für mich aber blieb es ein Rätsel. Er weigerte sich strikt, auch Springpferde zu erwerben, und begründete das damit, daß er dann in die Gefahr käme, etwas zu kaufen, was mich umbringen könnte. Für Flachrennen war ich zu groß, und deshalb fühlte er sich da sicher. Ich konnte ihm nie begreiflich machen, daß ich gern für ihn reiten würde, und gab am Ende meine entsprechenden Versuche auf. Wenn sich Greville einmal zu etwas entschlossen hatte, dann war er nicht mehr davon abzubringen.

Etwa alle zehn Minuten kam leise eine Krankenschwester herein, stand für kurze Zeit neben dem Bett und kontrollierte, ob alle Elektroden und Schläuche noch in Ordnung waren. Sie lächelte mir kurz zu und meinte einmal, daß mein Bruder meine Anwesenheit doch gar nicht wahrnähme und sie ihm deshalb auch kein Trost sein könne.

«Ich bin genausosehr um meinet- wie um seinetwillen hier«, sagte ich.

Sie nickte und ging wieder hinaus, und ich blieb noch ein paar Stunden, lehnte an der Wand und dachte über die

Ironie des Schicksals nach, daß er nun durch einen zufälligen Unfall ums Leben kam, wo doch ich derjenige war, der die Hälfte des Jahres das seine in höchst rühriger Weise aufs Spiel setzte.

Wenn ich heute auf diesen sich in die Länge ziehenden Abend zurückblicke, erscheint es mir auch seltsam, daß ich mir damals überhaupt keine Gedanken über die Folgen seines Todes machte. Die Gegenwart war selbst noch in diesen stillen, dahinschwindenden Stunden von starker Lebendigkeit, und alles, was ich in der Zukunft zu sehen vermochte, war ein ziemlich langweiliges, aus Formula-rausfüllerei und Beerdigungsvorbereitungen bestehendes Programm, über das im einzelnen nachzudenken ich keinerlei Lust verspürte. Ich würde, wie ich vage vermutete, die Schwestern anrufen müssen, und vielleicht kam es ja auch zu ein bißchen Trauer aus der Ferne, aber ich wußte auch schon, daß sie schließlich sagen würden:»Du kannst dich doch darum kümmern, nicht wahr? Alles, was du veranlassen wirst, soll uns recht sein. «Sie würden nicht um die halbe Welt gereist kommen, um da in trauervollem Nieselregen am Grabe eines Bruders zu stehen, den sie in zehn Jahren vielleicht zweimal gesehen hatten.

Mehr als das ging mir nicht durch den Kopf. Das Band gemeinsamen Blutes war alles, was Greville und mich wirklich verband, und sobald es gelöst war, würde nichts bleiben als die Erinnerung an ihn. Von Traurigkeit erfüllt, beobachtete ich den an seinem Hals unregelmäßig zuk-kenden Puls. Wenn er nicht mehr zu sehen sein würde, würde ich in mein eigenes Leben zurückkehren und gelegentlich mit Wärme an ihn denken, mich mit einem Gefühl allgemeinen Kummers dieser Nacht erinnern, aber mehr nicht.

Ich kehrte in das Wartezimmer zurück, um meinen Beinen ein wenig Ruhe zu gönnen. Die verzweifelten jungen

Eltern waren noch da, hohläugig und eng umschlungen, aber bald darauf erschien eine düster dreinblickende Schwester, um sie zu holen, und wenig später hörte ich dann das ansteigende Wehklagen der Mutter, die den erlittenen Verlust beweinte. Ich fühlte das Prickeln von Tränen, die ihr, einer Fremden, galten. Ein totes Kind, ein sterbender Bruder, ein alle verbindendes Elend. Der Tod des Kindes ließ mich in diesem Augenblick wirklich intensiv um meinen Bruder Greville trauern, und es wurde mir bewußt, daß ich mich, was das Ausmaß meines Schmerzes anbetraf, geirrt hatte. Ich würde ihn sehr vermissen.

Ich legte mein Fußgelenk hoch, bettete es auf einen Stuhl und döste immer wieder ein. Irgendwann vor Anbruch des Tages erschien die gleiche Schwester mit dem gleichen Gesichtsausdruck, um nun mich abzuholen.

Ich folgte ihr über den Flur und in Grevilles Zimmer. Diesmal brannten sehr viel mehr Lampen darin, waren sehr viel mehr Menschen anwesend, und die mit Monitoren ausgestatteten Geräte hinter dem Bett waren eingeschaltet worden. Blasse grüne Linien bewegten sich über die Bildschirme, einige in regelmäßigen Zuckungen, andere kompromißlos gerade.

Man brauchte mir nichts zu sagen, aber sie erklärten es mir trotzdem. Die geraden Linien zeigten die Summe aller Hirnaktivitäten an, das heißt, es waren nicht die geringsten mehr vorhanden.

Es gab keinen persönlichen Abschied. Der hatte ja auch keinen Sinn. Ich war dort, und das war genug. Sie erbaten und erhielten meine Zustimmung zur Abschaltung der Apparate, und bald wurden auch die noch pulsierenden Linien gerade — und was immer in dem stillen Körper gewesen sein mochte, war nun nicht mehr da.