«Ah, Sie sind wieder bei den Diamanten angelangt!«
«Ja. Wissen Sie’s?«
«Natürlich weiß ich das. Ein Sightholder ist jemand, der die Erlaubnis hat, von der CSO Rohdiamanten zu kaufen. Es gibt nicht sehr viele davon, nur ungefähr hundertfünfzig, glaube ich. Die verkaufen die Diamanten dann weiter an andere Leute. Ein Sight ist die alle fünf Wochen stattfindende Verkaufsveranstaltung der CSO, und eine Sight-box ist jeweils eine geschlossene Partie von Steinen, die zum Verkauf kommt, obwohl die auch oft als Sight bezeichnet wird.«
«Ist ein Sightholder dasselbe wie ein Diamantschleifer?«
«Alle Sightholder sind Diamantschleifer, aber nicht alle Diamantschleifer sind Sightholder. Die Diamantschleifer kaufen bei den Sightholdern oder beteiligen sich an einem Sight oder kaufen woanders ein, das heißt nicht bei de Beers.«
Man brauchte nur mal eine einfache Frage zu stellen, dachte ich.
Annette sagte:»Aus Japan ist eine Sendung Zuchtperlen eingetroffen. Wohin soll ich die tun?«
«Hm. Meinen Sie wohin, weil der Tresorraum abgeschlossen ist?«
«Ja.«
«Wo haben Sie denn solche Sachen hingetan, wenn mein Bruder auf Reisen war?«
Sie sagte unsicher:»Er gab immer Anweisung, sie dann im Lagerraum unter >Gemischte Perlen< abzulegen.«
«Dann tun Sie sie doch dorthin.«
«Aber das Schubfach ist voll mit Dingen, die schon in der letzten Woche gekommen sind. Ich möchte nicht die Verantwortung für die Aufbewahrung der Perlen an einem Ort übernehmen, den Mr. Franklin nicht gutgeheißen hätte. «Ich mochte einfach nicht glauben, daß sie auch bei simpelsten Fragen Anweisungen brauchte, aber das war ganz offensichtlich der Fall.»Die Perlen sind sehr wertvoll«, sagte sie.»Mr. Franklin hätte sie nie irgendwo und für alle sichtbar liegenlassen.«
«Gibt es irgendwelche leeren Schubfächer?«
«Nun, ich…«
«Suchen Sie sich eine leere oder fast leere Schublade und tun Sie sie da rein. Wir werden uns dann morgen früh ordentlich um sie kümmern.«
«Ja, in Ordnung.«
Sie schien mit der gefundenen Lösung zufrieden zu sein und sagte, alles andere habe Zeit, bis ich wieder in der Firma sei. Ich schaltete das Telefon ab und fühlte mich von den Aussichten, die sie mir da eröffnet hatte, gänzlich überwältigt — wenn Greville wertvolle Sachen schon unter >Gemischte Perlen< versteckt hatte, wo dann nicht noch überall? Würden sich die hundert Diamanten vielleicht im hinteren Teil der Fächer finden, die dem Rhodochrosit oder dem Jaspis vorbehalten waren, wenn ich dort nur nachschaute?
Schon eine gründliche Durchsuchung des Tresorraumes beanspruchte viel Zeit — da versprachen die vier Lagerräume der schiere Alptraum zu werden.
Wie durch ein Wunder fand Brad direkt vor Grevilles Haus einen Parkplatz, was ihn aber irgendwie zu enttäuschen schien.
«Zwanzig nach fünf zum Pub?«sagte er.
«Wenn’s recht ist. Und würden Sie bitte hier stehenbleiben, bis ich da reingeschaut habe?«Ich war doch vorsichtig geworden, fand ich.
Er verbeugte sich zustimmend und sah zu, wie ich die wenigen Schritte bis zur Haustür zurücklegte. Keine Scheinwerfer gingen an und keine Hunde bellten — aller Wahrscheinlichkeit nach deshalb nicht, weil noch hellichter Tag war. Ich öffnete die drei Schlösser und stieß die Tür auf.
Es war still im Haus. Kein Luftzug. Ich stellte ein Bronzepferdchen zwischen Tür und Schwelle, das ganz offenkundig zu eben diesem Zweck dort herumlag, und ging durch den Hausflur nach hinten in das kleine Wohnzimmer.
Keine Eindringlinge. Keine Unordnung. Keine Amazonen, die Totschläger schwangen, keine Abrißbirnen, die durch die Eisengitter der Fenster zu dringen versuchten. Wenn jemand darauf aus gewesen sein sollte, in Grevilles Festung einzudringen, dann war ihm dies nicht geglückt.
Ich kehrte zur Haustür zurück. Brad stand noch neben dem Wagen und schaute zum Haus herüber. Ich signalisierte ihm per Handzeichen, daß alles in Ordnung sei, worauf er ins Auto stieg, während ich die schwere Tür schloß und mich in dem kleinen Wohnzimmer daran machte, ein Buch nach dem anderen aus dem Regal zu ziehen, kurz durchzublättern und an seinen alten Platz zurückzustellen.
Es gab insgesamt zehn hohle Bücher, die meisten mit Titeln wie Geschichten aus dem australischen Busch oder Mit dem Maultier durch Patagonien. Vier waren leer, einschließlich desjenigen, in dem die Briefe von Clarissa Williams gesteckt hatten. In einem war der große, so reich verzierte Schlüssel. In einem anderen lag eine teuer aussehende goldene Uhr, die die genaue Zeit anzeigte.
Die Uhr, die Greville in Ipswich umgehabt hatte, war eins von diesen Dingern, die mehr Funktionen als Knöpfe haben. Sie lag jetzt auf meinem Nachttisch in Hungerford, gab in bestimmten Abständen eigentümliche Piepser von sich und verriet mir auch, wo Norden war. Das schmale goldene Prunkstück hier in der hohlen Buchschachtel war wohl einer anderen Stimmung, einem anderen Manne zugedacht gewesen, und als ich es auf der Handfläche umdrehte, fand ich auf der Rückseite eingraviert:»Dem lieben G — von C.«
Sie konnte nicht gewußt haben, daß die Uhr dort war, dachte ich. Sie hatte ja nicht danach gesucht. Sie hatte lediglich nach den Briefen gesucht und war rein zufällig als erstes auf sie gestoßen. Ich legte die Uhr wieder in die Schachtel und stellte diese ins Regal zurück. Es gab keine Möglichkeit, sie ihr zukommen zu lassen, und vielleicht wollte sie sie ja auch gar nicht wiederhaben, nicht mit dieser Inschrift.
Zwei der nun verbleibenden Buchschachteln enthielten große Schlüssel, auch sie nicht näher spezifiziert, die dritte ein zusammengefaltetes Merkblatt mit Anweisungen, wie man einen Safe sicher in Beton bettet. In der letzten Schachtel fanden sich zwei sehr kleine Plastikschächtel-chen, auf die das Wort» Mikrokassette «aufgedruckt war. Diese Schachteln mochten etwa fünf mal dreieinhalb Zentimeter messen, die federleichten Bänder darin geringfügig weniger.
Ich drehte eine von ihnen unentschieden in der Hand. Bislang hatte ich unter Grevilles säuberlich aufgeräumten Besitztümern noch keinen Recorder für Mikrokassetten gefunden, was nicht bedeutete, daß dies nicht eines Tages noch geschehen könnte. Bis dahin aber hatte die Sache Zeit, dachte ich schließlich und ließ die kleinen Bänder in ihrem Buch.
Als die zehn schillernden Bücher mitsamt ihren Geheimnissen alle wieder im Regal standen, betrachtete ich die Bücherwand mit düsterem Blick. Nicht ein Diamant in dem ganzen Haufen!
Anleitungen zur Herstellung von Betonummantelungen waren ja schön und gut — aber wo war der Safe? Bänder, schön — aber wo war der Recorder? Schlüssel waren eine feine Sache — aber wo waren die Schlösser? Das Frustrie-rendste an der ganzen Geschichte war, daß Greville gar nicht die Absicht gehabt hatte, Rätsel dieser Art zu hinterlassen. Für ihn waren die Antworten Teil seines Systems gewesen.
Ich hatte bei meinem verschiedentlichen Betreten und Verlassen des Hauses bemerkt, daß sich in dem hinter dem Briefschlitz der Haustür befestigten Drahtkorb Post anzusammeln begonnen hatte, weshalb ich die Zeit, die mir noch blieb, bis ich mich auf den Weg zum Pub machen mußte, damit ausfüllte, mir die Briefe ins kleine Wohnzimmer zu holen und die Umschläge zu öffnen.
Mein Tun erschien mir nicht richtig. Ich sagte mir immer wieder, daß es notwendig sei, aber ich hatte trotzdem noch immer das Gefühl, unbefugt auf Gelände vorzudringen, das Greville mit Zäunen abgesperrt hatte. Nun, ich fand Rechnungen, Spendenaufrufe wohltätiger Vereinigungen, einen Auszug seines Privatkontos, eine gemmologische Fachzeitschrift und zwei Einladungen. Keine Briefe von Sightholdern oder Diamantschleifern in Antwerpen. Ich steckte alle Briefe in den großen Umschlag der EdelsteinZeitschrift, dazu ein paar andere unerledigte Dinge ähnlicher Art, die ich in der Schublade unter dem Telefon gefunden hatte, und dachte, während ich all dies verstaute, um es mit nach Hungerford hinauszunehmen, wie zuwider mir doch Papierkram jeglicher Art war. Mein eigener hatte es schon so an sich, sich zu Haufen aufzutürmen, die immer dringlicher nach Erledigung verlangten. Vielleicht würde mich aber die Tatsache, daß ich mich nun auch noch um den Grevilles kümmern mußte, gescheiter werden lassen.