Es war fast schon zu dunkel, um noch weiterlesen zu können, aber ich blätterte doch noch eine Seite um und fand etwas, was beinah schon ein Gebet war — so persönlich und leidenschaftlich, daß ich spürte, wie mein Mund ganz trocken wurde. Auf der ganzen Seite standen nur drei Zeilen:
Laß mich mein Geschäft ehrenhaft betreiben.
Laß mich mutig handeln.
Laß mich demütig werden.
Ich hatte das Gefühl, als hätte ich dies nicht lesen sollen; wußte, daß er nicht gewollt hatte, daß es gelesen würde. Laß mich demütig werden… es war ein Gebet für Heilige.
Als wir bei meiner Wohnung angelangt waren, sagte ich Brad, daß ich am Tag mit der Bahn nach London fahren wolle, was ihn ganz vernichtet aussehen ließ.
«Ich fahr Sie auch ohne Geld«, sagte er heiser.
«Es ist nicht das Geld. «Ich war von der Intensität seiner Gefühle überrascht.»Ich dachte nur, Sie seien vielleicht die viele Warterei leid.«
Er schüttelte heftig und mit inständig flehenden Augen den Kopf.
«Also gut«, sagte ich.»Morgen London, am Freitag Ipswich, okay?«
«Wollja«, sagte er mit offensichtlicher Erleichterung.
«Und ich werde Sie bezahlen, versteht sich.«
Er sah mich einen Augenblick lang stumm an, tauchte dann mit dem Kopf nach unten und in das Innere des Wagens, um den großen braunen Umschlag, den wir aus Grevilles Haus mitgebracht hatten, herauszuholen und wartete schließlich, bis ich die Haustür aufgeschlossen und mich vergewissert hatte, daß mir dahinter keine ungebetenen Gäste auflauerten.
Alles war ruhig, alles in Ordnung. Brad nickte auf meine Entwarnung hin, übergab mir den Umschlag und eilte in die Nacht davon, wortloser denn je. Ich hatte nie viel darüber nachgedacht, was er wohl in den vielen stillen Stunden denken mochte, hatte nie versucht, so nahm ich an, ihn wirklich zu verstehen. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich das tatsächlich wollte. Es war alles so ungemein bequem so, wie es war.
Ich verzehrte eine mikrowellenerhitzte Hühnerfleischpastete aus dem Kühlschrank und begann danach ohne große Begeisterung mit der Bearbeitung von Grevilles Post, bezahlte seine Rechnungen für ihn, löste sein Konto auf, sagte seine Einladungen ab, schrieb tut mir leid, tut mir leid, tut mir sehr leid.
Dann ging ich trotz aller guten Vorsätze meinen Berg von Unerledigtem nicht an, sondern las Grevilles Notizbuch zu Ende durch, nach Diamanten suchend. Da mochte es ja ein paar ordentliche Goldklumpen, vielleicht sogar Perlen der Weisheit geben, aber nicht die geringsten hilfreichen Anweisungen a la» Wende dich am vierten Apfelbaum nach rechts, geh fünf Schritte geradeaus und dann grabe!«
Dagegen fand ich die Antwort auf ein kleineres Rätsel, die ich mit gequältem Vergnügen las:
Das Kästchen aus grünem Speckstein gefällt mir als ein gutes Beispiel für Irreführung und trickreiche Verschlagenheit. Zu dem Schlüsselloch gibt es keinen Schlüssel, weil gar kein Schloß vorhanden ist. Es ist unmöglich, das Denken eines Menschen mit Schlüsseln zu öffnen, aber mit List und Druck läßt sich das wohl erreichen, wie im Falle des Kästchens.
Trotz dieser schlichten Aufforderung, mich der List und Tücke zu bedienen, brauchte ich eine Ewigkeit, um das Geheimnis zu lüften. Ich versuchte es damit, daß ich auf die beiden Scharniere drückte, auf das vermeintliche Schloß, auf den Deckel, ich drehte das Kästchen herum und drückte wieder auf alle Teile — der grüne Stein blieb störrisch und verschlossen.
Irreführung, dachte ich. Wenn das Schlüsselloch zu keinem Schloß gehörte, vielleicht waren dann die Scharniere auch gar keine Scharniere. Vielleicht war der Deckel gar kein Deckel. Vielleicht war das ganze Kästchen gar kein Kästchen, sondern ein solider Block.
Ich versuchte es noch einmal mit dem umgedrehten Kästchen, drückte mit dem Daumen fest auf die nach oben zeigende Unterseite und bemühte mich dabei, sie gleichzeitig nach vorn zu schieben. Nichts rührte sich. Ich drehte das Kästchen und drückte in die entgegengesetzte Richtung — und als beseufze er die Dauer meiner Begriffsstutzigkeit, glitt der Boden zögernd halb nach außen. Nicht weiter.
Eine wahrlich hübsche Arbeit, dachte ich. Wenn das Kästchen geschlossen war, war buchstäblich nicht zu sehen, daß der untere Teil gar nicht aus einem Stück war — so genau war der Deckel eingepaßt. Mit großer Neugier sah ich nun nach, was Greville wohl in diesem raffinierten Versteck verborgen hatte, wobei ich nicht wirklich erwartete, Diamanten darin zu finden. Vielmehr zog ich zwei abgenutzte Lederbeutelchen mit Verschlußschnüren hervor, Beutel, wie sie Juweliere gern verwenden, deren jeweiliger Name dann oft draufsteht.
Zu meiner großen Enttäuschung waren beide Beutel leer. Ich stopfte sie wieder in die Höhlung zurück, schloß das Kästchen — und da stand es nun den ganzen Abend auf dem Tisch neben dem Telefon herum, ein gelöstes Rätsel, gleichwohl aber völlig nutzlos.
Erst als ich beschloß, zu Bett zu gehen, fiel der Groschen, machte es plötzlich klick in meinem Kopf, und ein nur halb wahrgenommenes Wort wurde mit einem Male zu einem vollständigen Gedanken. Van Ekeren, in Goldprägung. Vielleicht war ja dieser Name des Juweliers, mit dem die Beutelchen beschriftet waren, doch einen zweiten Blick wert.
Ich öffnete das Kästchen erneut, zog die Beutel wieder heraus und fand darauf den vollständigen Namen und die vollständige Adresse des Juweliers, abgeschabt und verblichen zwar, aber lesbar:
JACOB VAN EKEREN
Pelikaanstraat 70 Antwerpen
Es mußte, so ging mir durch den Kopf, in Antwerpen wohl an die zehntausend Juweliere geben. Die Lederbeutelchen
waren alles andere als neu, ganz gewiß nicht nur ein paar Wochen alt. Und doch… ich sollte dem mal nachgehen.
Ich nahm einen der beiden Beutel an mich, steckte den anderen in das Kästchen zurück, das ich verschloß, und nahm am folgenden Morgen die leicht verkrumpelte Trophäe mit nach London, wo ich mit Hilfe der internationalen Telefonauskunft die Nummer von Jacob van Ekeren ermitteln konnte.
Die Stimme, die sich in Antwerpen vernehmen ließ, sprach entweder holländisch oder flämisch, weshalb ich es mit Französisch versuchte: »Je veuxparler avec Monsieur Jacob van Ekeren, s’il vousplatt.«
«Ne quittez pas.«
Ich blieb am Apparat, wie mir aufgetragen worden war, bis sich eine andere Stimme meldete, diesmal französisch, was ich nur allzu unvollkommen beherrsche.
«Monsieur van Ekeren n ’estpas ici maintenant, Monsieur.«
«Parlez-vous anglais?« fragte ich.»Ich rufe aus England an.«
«Attendez.«
Wieder wartete ich und wurde dann mit einer sehr englisch klingenden Stimme belohnt, die fragte, ob sie mir behilflich sein könne.
Ich erklärte, daß ich im Namen von Saxony Franklin Ltd. anrufe, Importeur von Edelsteinen in London.
«Und womit kann ich dienen?«Mein Gesprächspartner war höflich und unverbindlich.
«Sagen Sie mir«, antwortete ich kühn,»schleifen und polieren Sie Rohdiamanten?«
«Ja, natürlich«, sagte er.»Aber bevor wir mit neuen Kunden in Geschäftsbeziehung treten können, benötigen wir Empfehlungen und Referenzen.«»Hm«, sagte ich.»Aber ist Saxony Franklin nicht schon Ihr Kunde? Oder vielleicht Greville Saxony Franklin? Oder einfach Greville Franklin? Es ist wirklich wichtig.«
«Darf ich Ihren Namen erfahren?«
«Derek Franklin. Grevilles Bruder.«
«Einen Augenblick bitte. «Er meldete sich nach einer Weile wieder und sagte, er wolle in Kürze zurückrufen.
«Ich danke vielmals«, sagte ich.