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Es dauerte lange, bis sich an diesem Morgen irgend etwas erledigen ließ, denn es stellte sich heraus, daß Sonntag war.

Ich versuchte mich zu erinnern, da ich jede zeitliche Orientierung verloren hatte. Am Donnerstag hatte ich mir den Knöchel gebrochen, am Freitag war das Baugerüst auf Greville herabgestürzt, am Samstag hatte mich Brad nach Ipswich gefahren. Das alles schien unendlich weit weg zu sein — gelebte Relativität.

Es bestand, wie es schien, die Möglichkeit, daß die Gerüstbaufirma schadensersatzpflichtig war, weshalb man mir riet, einen Anwalt zu konsultieren.

Während ich mich durch den Papierberg arbeitete und versuchte, Entscheidungen zu treffen, wurde mir klar, daß ich gar nicht wußte, was eigentlich Grevilles Wille war. Wenn er irgendwo ein Testament hinterlegt hatte, so waren da vielleicht Dinge verfügt, die ich ausführen sollte. Der Gedanke durchzuckte mich, daß wohl außer mir niemand sonst von seinem Ableben wußte. Es gab sicher Leute, die ich benachrichtigen mußte — aber ich hatte keine Ahnung, wer sie waren.

Ich fragte, ob ich den Taschenkalender bekommen könne, der am Unfallort gefunden worden war, und sofort übergab man mir nicht nur das Büchlein, sondern auch all die anderen Dinge, die mein Bruder bei sich gehabt hatte: Schlüsselbund, Uhr, Taschentuch, Siegelring, ein bißchen Kleingeld, Schuhe, Socken, Jacke. Die übrigen Kleidungsstücke, zerfetzt und blutgetränkt, waren, wie es schien, verbrannt worden. Man forderte mich auf, den Empfang der Gegenstände mit meiner Unterschrift zu bestätigen, wobei vorher jeder einzelne bei der Übergabe abgehakt worden war.

Es war alles aus dem großen braunen Plastikbeutel ausgeschüttet worden, in dem man die Sachen aufbewahrt

hatte. Auf beiden Seiten des Beutels stand in weißer Schrift» St. Catherine’s Hospital«. Ich tat Schuhe, Socken, Taschentuch und Jacke wieder in den Beutel zurück und zog die Schnur zu. Dann steckte ich den großen Schlüsselbund in meine Hosentasche, ebenso den Ring, die Uhr und das Geld, und besah mir sodann den Kalender.

Auf der ersten Seite hatte er seinen Namen eingetragen, dazu die Telefonnummern seiner Wohnung und seiner Firma, aber keine Adressen. Unten auf der Seite, wo» Bei Unfall bitte benachrichtigen «stand, hatte er» Derek Franklin, Bruder, nächster Angehöriger «hingeschrieben.

Der Taschenkalender war der, den ich ihm zu Weihnachten geschenkt hatte — es war der Rennkalender, den der Verband der Jockeys zusammen mit dem Fonds für verletzte Jockeys herausgab Daß er ausgerechnet diesen Kalender benutzt hatte, wo er doch sicherlich noch eine ganze Reihe anderer überreicht bekommen hatte, überraschte und rührte mich. Daß er meinen Namen darin vermerkt hatte, war erstaunlich, und ich fragte mich, was er wohl von mir gehalten haben mochte — was wir einander hätten bedeuten können, und was wir versäumt hatten.

Ich steckte den Kalender traurig in meine andere Hosentasche. Morgen früh würde ich wohl in der Firma anrufen und die schreckliche Nachricht übermitteln müssen. Vorher konnte ich niemanden informieren, da ich weder die Namen noch die Telefonnummern der Leute kannte, die für ihn arbeiteten. Ich wußte nur, daß er keine Partner hatte, weil er des öfteren betont hatte, daß er sein Unternehmen nur allein führen könne. Partner spielten einem zu oft Streiche, hatte er gemeint, und davon wolle er nichts wissen.

Als ich alle Unterschriften geleistet hatte, wickelte ich die Schnur des Plastikbeutels ein paarmal um mein Handgelenk und schleppte ihn und mich an den Krücken hinun-ter in die Eingangshalle, die an diesem Sonntagmorgen mehr oder minder verlassen war. Auch Brad war nicht da, hatte auch keine Nachricht beim Pförtner hinterlassen, weshalb ich mich einfach hinsetzte und wartete. Ich zweifelte nicht, daß er, finster dreinblickend wie eh und je, irgendwann nach eigenem Gutdünken zurückkehren würde. Genau dies tat er schließlich auch und schlurfte ohne das geringste Anzeichen von Hast zur Tür herein.

Er erspähte mich, näherte sich mir bis auf drei Meter, fragte» Soll ich mal das Auto holen?«, und als ich nickte, drehte er ab und verschwand wieder. Ein Mann von wenigen Worten, dieser Brad. Ich folgte ihm langsam, wobei der Plastikbeutel unaufhörlich gegen die Krücke schlug. Wenn ich schneller gedacht hätte, hätte ich ihn Brad mitgegeben, aber es hatte ganz den Anschein, als sei ich in gar keiner Weise zu schnellem Denken in der Lage.

Draußen schien die Oktobersonne hell und warm. Ich atmete die milde Luft tief ein, machte noch ein paar Schritte von der Tür weg, wartete geduldig weiter — und war nicht im geringsten darauf gefaßt, brutal überfallen zu werden.

Ich erkannte kaum, wer es war. Eben noch aufrecht dastehend, unkonzentriert auf meine Krücken gestützt, erhielt ich im nächsten Augenblick einen rammbockartigen Stoß ins Kreuz und stürzte nach vorn auf den harten schwarzen Asphalt der Einfahrt. In dem Versuch, mich zu retten, stellte ich ganz instinktiv den linken Fuß auf den Boden, der sich verdrehte, was schmerzhaft war und nichts brachte. Halb von Sinnen, flog ich flach auf den Bauch, und es war mir schon fast gleichgültig, als jemand gegen die eine der zu Boden gefallenen Krücken trat, so daß sie weit davonrutschte, und dann an dem noch an meinem Handgelenk hängenden Beutel zerrte.

Er… es mußte ein Er sein, dachte ich, bei dieser Schnelligkeit und Stärke… er setzte mir einen Fuß in den Nak-ken und legte sein ganzes Gewicht darauf. Dann zog er meinen einen Arm hart nach oben und vorn und durchtrennte die Plastikschnur mit schnellem Schnitt, wobei auch ein Stück der Haut meines Handgelenks daran glauben mußte. Ich spürte es kaum. Die Botschaften, die mein linkes Fußgelenk aussandte, verdrängten alles andere.

Eine Stimme näherte sich, rief mit Nachdruck» He! He!«, und der Angreifer ließ von mir ab und verschwand so schnell, wie er gekommen war.

Es war Brad, der zu meiner Rettung erschienen war. An jedem anderen Tag der Woche wären wahrscheinlich andauernd irgendwelche Menschen vorbeigekommen, nicht aber an einem Sonntagmorgen. Niemand sonst schien da zu sein und etwas bemerkt zu haben. Nur Brad war herbeigerannt.

«Schöne Scheiße«, sagte er über mir.»Alles in Ordnung?«

Weit gefehlt, dachte ich.

Er ging und holte die weggetretene Krücke zurück.»Ihre Hand blutet ja«, sagte er ungläubig.»Wolln Sie nicht aufstehn?«

Ich war mir da nicht so sicher, aber es schien mir gar nichts anderes übrig zu bleiben. Als ich eine einigermaßen aufrechte Stellung eingenommen hatte, betrachtete er ungerührt mein Gesicht und äußerte dann die Ansicht, daß wir lieber ins Krankenhaus zurückkehren sollten. Da mir nicht nach einer Auseinandersetzung zumute war, taten wir das.

Ich setzte mich ans Ende einer der langen Bänke und wartete darauf, daß die Flut der Schmerzen abebben würde. Als ich dann die Dinge wieder ein bißchen besser unter Kontrolle hatte, ging ich hinüber zur Aufnahme und schilderte dort, was sich ereignet hatte.

Die Frau hinter der Glasscheibe war entsetzt.

«Jemand hat Ihnen Ihren Plastikbeutel gestohlen?«sagte sie mit weit aufgerissenen Augen.»Ich meine, jeder hier weiß, was diese Beutel zu bedeuten haben, sie werden immer für die Sachen der Leute genommen, die gestorben sind oder die nach Unfällen hier eingeliefert werden. Ich meine, jeder weiß, daß Brieftaschen und Schmuck und so weiter da drin sein können, aber ich habe noch nie gehört, daß jemandem eine weggeschnappt worden ist. Wie fürchterlich! Was haben Sie alles verloren? Sie melden das besser der Polizei!«

Die Vergeblichkeit solchen Tuns erfüllte mich mit Müdigkeit. Irgend so ein Punker hatte es darauf ankommen lassen und gehofft, daß die Hinterlassenschaft des Toten das Risiko wert sein würde — und die Polizei würde den Tathergang aufnehmen und dann zu der Mehrzahl der un-gesühnten Raubüberfälle legen. Ich war wohl, wie ich annahm, der Kategorie der Verwundbarsten zugeordnet worden, zu der vor allem kleine alte Damen gehörten, und so schmerzhaft diese Vorstellung für mich auch sein mochte, Tatsache blieb doch, daß ich da auf meinen Krücken nicht nur wie ein Kinderspiel ausgesehen hatte, sondern auch eins gewesen war, und das ganz buchstäblich.