«Harley und ich hatten gerade eine wundervolle Idee«, sagte sie süß und mit funkelnden Augen.
«Aber Martha!«sagte Harley. Es klang leicht beunruhigt, so, als ob Marthas wundervolle Ideen nicht immer die allerbesten seien.
«Wir möchten, daß Sie mit uns zu Abend essen, wenn wir zurück in London sind«, beendete sie ihre Ankündigung.
Harley entspannte sich erleichtert.»Ja. Hoffe, es paßt Ihnen.«
Er wollte damit ganz eindeutig zum Ausdruck bringen, daß diese spezielle wundervolle Idee passabel sei, ja, sogar willkommen.
«London am Wochenende ist wie ein Friedhof.«
Innerlich grinsend akzeptierte ich die mir zugedachte Aufgabe, die Friedhofsatmosphäre aufzulockern, und sagte — auch im Sinne der guten Sache, nämlich einer weiteren Festigung der Ostermeyer-Shandy-Franklin-Beziehungen —, daß es mir eine große Freude sei, dieser Einladung zum Essen Folge zu leisten. Martha und Harley äußerten sich in einem Maße befriedigt, daß ich mich fragte, ob sie sich vielleicht, wenn sie mit sich allein waren, gegenseitig bis zum Verstummen langweilten.
>Dozen Roses< kam gesattelt aus seiner Box und wurde zum Führring geleitet. Er ging gut, dachte ich, seine schönen, geraden Fesseln ermöglichten eine ausgreifende Gangart, und er schien nun, da die Erregung des Rennens in der Luft lag, auch ein gut Teil munterer.
Hinter dem Pferd her eilten Nicholas Loder und sein Freund Rollo, und die Tatsache, daß sie ihm dermaßen zu Leibe rückten, war wohl der Grund dafür, daß sich >Dozen Roses< plötzlich zur Seite warf, den Stallburschen, der die Zügel hielt, ein Stück rückwärts zog und dann wieder nach vorn schnellte, wobei er Meister Rollo einen so derben Stoß versetzte, daß dieser in die Knie ging.
Spontanes Mitgefühl ließ Martha auf Rollo zustürzen, um ihm Beistand zu leisten, aber dieser rappelte sich mit einem Fluch schon wieder auf, der sie schockiert dreinblicken ließ. Trotzdem bückte sie sich, hob etwas auf, das wie ein blauer Gummiball aussah und ihm aus der Tasche gefallen war, und sagte:»Ich glaube, Sie haben das verloren.«
Er entriß ihr den Gegenstand unfreundlich, warf ihr einen unnötig wilden Blick zu, als ob sie das Pferd so erschreckt hätte, was ganz gewiß nicht der Fall gewesen war, und eilte hinter Nicholas Loder her in den Führring. Dieser bemerkte, als er sich umsah, daß ich noch immer da war, und reagierte darauf mit einem neuerlichen Wutausbruch.
«Was für absolut grauenvolle Leute«, sagte Martha und schnitt eine Grimasse.»Haben Sie gehört, was der Kerl gesagt hat? Widerlich! So was laut auszusprechen!«
Meine liebe Martha, dachte ich bei mir, dieses Wort gehört zum gängigen Vokabular der Rennplätze. Die nettesten Leute bedienten sich seiner, es machte niemanden zum Schurken. Sie klopfte eifrig Sand von ihren Handschuhen, als gelte es, sich von einer Verseuchung zu reinigen, und ich erwartete eigentlich fast, daß sie ganz im Stile der unbezwingbaren Amerikanerin zu Rollo hinmarschieren würde, um ihm zu empfehlen, sich das lose Maul mal mit Seife auszuwaschen.
Harley hatte in der Zwischenzeit noch etwas anderes aus dem Gras aufgehoben und besah es sich hilflos.»Das hat er auch fallenlassen«, sagte er.»Glaube ich jedenfalls.«
Martha schaute sich das Ding an und nahm es ihm aus der Hand.
«O ja«, sagte sie, den Gegenstand erkennend,»das ist die andere Hälfte von dem Begießer. Sie nehmen es besser an sich, Derek, dann können Sie es ja diesem unangenehmen Freund Ihres Trainers wiedergeben, wenn Sie wollen.«
Ich betrachtete mit gerunzelter Stirn, was sie mir überreichte. Es war eine Plastikröhre, halb durchsichtig, hatte einen Durchmesser von etwa zweieinhalb und eine Länge von ungefähr zwanzig Zentimetern, war an der einen Seite offen und verengte sich an der anderen um die Hälfte.
«Das ist so ein Ding, das man dazu benutzt, um einen Braten mit Bratensaft zu übergießen«, sagte Martha.»Sie kennen so etwas, nicht wahr? Sie drücken den Gummiball, halten die Öffnung in die Flüssigkeit und lassen los, so daß sie eingesaugt wird, und besprühen dann das Fleisch damit.«
Ich nickte. Ich wußte, was ein Bratenbegießer war.
«Wie seltsam, so etwas mit zu einem Rennen zu nehmen«, sagte Martha.
«Mm«, stimmte ich ihr zu.»Das scheint mir überhaupt ein seltsamer Mensch zu sein. «Ich steckte die Plastikröhre in eine meiner Innentaschen, aus der ihr eines Ende ein paar Zentimeter herausragte, und dann gingen wir zum Führring hinüber, um dort >Dozen Roses< — nun mit seinem Jockey vereint — zu bewundern, und danach zur Tribüne, um ihn laufen zu sehen.
Der Jockey war Loders bester Mann, so befähigt, wie es ein Jockey nur sein konnte, und so redlich wie die meisten. Der Stall hatte eindeutig auf dieses Pferd gesetzt, dachte ich, als ich sah, wie sich an der Informationstafel der angezeigte Stand der Wetten von 2:1 zu 5:2 veränderte. Wenn ein am Spiel beteiligter Stall sein Geld nicht auf das favorisierte eigene Pferd setzte, dann fing sofort das Ge-raune an, und der Preis gab dramatisch nach. Dieses Ge-raune mußte heute, wo es darauf ankam, besagen, daß es Loder mit dem Sieg ernst und an Alfies niederträchtiger Unterstellung diesmal nichts dran sei.
Loders Stall zog — was in der Rennwelt wohlbekannt war
— auf Grund seiner alljährlichen Erfolge immer wieder Besitzer an, die echte Spieler, will sagen mehr am Gewinnen von Geld als am Gewinnen von Rennen interessiert waren. Das mag zwar wie eine Binsenweisheit klingen, ist es aber insofern nicht, als beispielsweise Besitzer, die sich bei Steeplechase-Rennen engagieren, im Normalfall weit eher darauf erpicht sind, die Rennen zu gewinnen. Sie machen nur hin und wieder mal Profit und gehen zumeist in realistischer Einschätzung der Lage davon aus, daß sie für ihr Vergnügen halt bezahlen müssen.
Ich fragte mich, ob es sich bei diesem Rollo wohl um einen der großen Spieler von Nicholas Loder handelte. Ich blätterte in meinem Programmheft zurück und sah seinen Namen nach, der neben jenem Pferd stand, das vorhin das Fliegerrennen gewonnen hatte. Besitzer: Mr. T. Rollway hieß es dort. Für seine Freunde kurz Rollo. Nie was von ihm gehört, dachte ich. Ob Greville ihn wohl gekannt hatte?
>Dozen Roses< galoppierte mit zumindest genausoviel Energie und Begeisterung zum Start wie die sieben anderen Pferde und ließ sich anstandslos in die Startbox führen. Die Strecke bis dorthin war er gut gegangen, fand ich, und hatte sich willig ins Zeug gelegt. Er war natürlich inzwischen auch schon ein alter Hase — genau wie ich, dachte ich trocken.
Ich war in meinen frühen Jahren als Amateur einige Flachrennen geritten und hatte dabei erfahren, daß das Anstrengendste und Überraschendste an dieser Hockstellung über dem Widerrist das Ausmaß war, in dem sie einem die
Lungen zusammenquetschte und damit das Atmen erschwerte. Die ersten Male war ich im Ziel aus Mangel an Sauerstoff fast vom Pferd gefallen. Das war lange her, dachte ich, während ich beobachtete, wie die Gitter aufflogen und die Boxen ihre Farben ausspuckten — lange her die Zeit, als ich noch jung war und alles noch vor mir hatte.
Wenn ich Grevilles Diamanten fände, ging mir durch den Kopf, würde ich in der Lage sein, mir irgendwann einen schönen, großen Hof in Lambourn zu kaufen und — frei von Darlehen und in bescheidenem Rahmen — als Trainer tätig zu werden, vorausgesetzt natürlich, ich könnte Besitzer dafür gewinnen, mir ihre Pferde zu überlassen. Ich zweifelte inzwischen nicht mehr daran, daß ich eines Tages, wenn mein Körper es aufgeben würde, schnell zu verheilen, wie das am Ende ja wohl jeder tat, mit einem solchen neuen Leben sehr zufrieden sein würde, auch wenn meine verzehrende Leidenschaft für die Rennreiterei durch nichts Zahmeres zu ersetzen war.
>Dozen Roses< lief mit der Meute — nach den ersten sechshundert Metern lagen alle Pferde noch dicht beieinander, flogen auf der gegenüberliegenden Geraden mit mehr als Reisegeschwindigkeit dahin, hatten aber durchaus noch Beschleunigungsmöglichkeiten in Reserve.