— aber diese Theorie stimmte nicht. Ich hatte auch weiterhin solche Angst, daß ich fast den Verstand verlor.
Es ging mir durch den Kopf, daß es eigentlich sonderbar war, daß ich trotz all der Risiken, die ich einging, nur selten so etwas wie Todesangst verspürt hatte. Ich dachte an körperliche Schmerzen, die man ja in einem Job wie dem meinen häufiger erdulden mußte, und ich erinnerte mich an Dinge, die ich schon erlitten hatte, aber ich wußte nicht, warum mich jetzt die Idee, qualvoll zu verbrennen, mit einem Entsetzen erfüllte, das nur noch schwer zu beherrschen war. Ich schluckte und fühlte mich alleingelassen und hoffte nur, daß es, wenn es denn geschähe, schnell gehen würde.
Endlich waren in der Ferne Sirenen zu hören, und der schönste Anblick von der Welt, jedenfalls was mich betraf, war nun der des roten Feuerwehrautos, das sich langsam vorwärtsschob und die Autos der Zuschauer zur Seite zwang. Die Straße bot gerade für drei Autos nebeneinander Platz — auf der einen Seite war die Mauer, auf der anderen eine Baumreihe. Hinter dem Feuerwehrauto konnte ich das blinkende Blaulicht eines Polizeiwagens sehen und dahinter noch ein Blinklicht, das vielleicht das Vorhandensein eines Krankenwagens anzeigte.
Gestalten in Autorität ausstrahlenden Uniformen entstiegen den Fahrzeugen, die willkommensten in feuerfesten Anzügen, einen Schlauch ausrollend. Sie blieben vor dem Daimler stehen, betrachteten den in seine Seite verkeilten Bus und die Familienkutsche davor, und dann schrie mir einer durch die Öffnung, in der eigentlich die Windschutzscheibe sein sollte, zu:»Aus diesem Fahrzeug läuft Benzin aus. Können Sie da nicht raus?«
Was für eine verdammt alberne Frage, dachte ich. Ich sagte:»Nein.«
«Wir werden einen Schaumteppich auf die Straße unter Ihnen sprühen. Schließen Sie die Augen und halten Sie sich was vor Mund und Nase.«
Ich nickte und tat, wie mir geheißen war — es gelang mir, den Kopf einzuziehen und das Gesicht im Kragen meines
Pullovers zu bergen. Ich lauschte dem anhaltenden Zischen der Sprühaktion und dachte, daß kein Laut süßer klingen könne. Die Gefahr zu verbrennen wich zunehmend, aus der Beinahesicherheit wurde sich verringernde Wahrscheinlichkeit und aus dieser völlige Unwahrscheinlichkeit, und die Befreiung von der Angst war fast so schwer zu verkraften wie vorher die Angst. Ich wischte mir Blut und Schweiß aus dem Gesicht und fühlte mich sehr wacklig.
Nach einer weiteren Weile brachten ein paar der Feuerwehrleute Metallscheren herbei und zerrten die verklemmte Tür neben dem Sitz, auf dem Harley gesessen hatte, mehr oder weniger aus ihrem Rahmen. In diese neu geschaffene Öffnung zwängte sich ein Polizeibeamter, warf einen schnellen Blick auf Simms und mich und hockte sich dann so auf den Rücksitz, daß er mein Gesicht sehen konnte. Ich drehte es ihm so weit zu, wie es nur gehen wollte, und erblickte ein ernstes Gesicht unter dem Helm — ungefähr mein Alter, schätzte ich, und sehr angespannt.
«Gleich kommt ein Arzt«, sagte er, magere Tröstung austeilend.»Der kümmert sich um Ihre Verletzungen.«
«Ich glaube nicht, daß ich blute«, sagte ich.»Was ich auf mir habe, ist das Blut von Simms.«
«Ah. «Er zog ein Notizbuch hervor und schaute hinein.
«Konnten Sie sehen, was diesen… was all dies verursacht hat?«
«Nein«, sagte ich und fand es ein klein wenig überraschend, daß er mich das hier und zu diesem Zeitpunkt fragte.»Ich habe mich gerade zu Mr. und Mrs. Ostermeyer umgeblickt, die da saßen, wo Sie jetzt sind. Der Wagen schien halt irgendwie außer Kontrolle geraten zu sein. «Ich dachte nach, erinnerte mich.»Ich glaube, Harley… Mr. Ostermeyer könnte etwas gesehen haben. Er sah eine Sekunde lang ganz entsetzt aus… dann krachten wir gegen die Mauer, prallten ab und dem Bus in den Weg.«
Er nickte und notierte sich etwas.
«Mr. Ostermeyer ist wieder bei Bewußtsein«, sagte er dann und klang mit Bedacht unverbindlich.»Er sagt, es sei auf Sie geschossen worden.«
«Auf uns wurde was?«
«Geschossen. Nicht auf sie alle. Auf Sie, nur auf Sie.«
«Nein!«Das mußte so verwirrt geklungen haben, wie ich mich fühlte.»Bestimmt nicht.«
«Mr. und Mrs. Ostermeyer sind sehr durcheinander, aber er ist ziemlich sicher, daß er eine Pistole gesehen hat. Er sagt, der Chauffeur wäre gerade ausgeschert, um einen Wagen zu überholen, der schon eine ganze Weile vor dem ihrigen hergefahren sei, und der Fahrer dieses Wagens hätte sein Fenster offen gehabt und eine Pistole rausgehalten. Er sagt, die Pistole sei auf Sie gerichtet gewesen und zweimal abgefeuert worden. Mindestens zweimal, sagt er. Er habe das Mündungsfeuer sehen können.«
Ich blickte vom Polizisten zu Simms und auf das überall verteilte Blut des Chauffeurs und auf die dunkelrote, klumpige Masse unterhalb seines Kinns.
«Nein«, wehrte ich ab, wollte es nicht glauben.»Das kann doch nicht sein.«
«Mrs. Ostermeyer ist in großer Angst, daß Sie hier sitzen und langsam verbluten.«
«Ich fühle mich eingepfercht, aber nicht durchlöchert.«
«Können Sie Ihre Füße fühlen?«
Ich bewegte die Zehen, erst die des einen Fußes, dann die des anderen. Es gab nicht den geringsten Anlaß zu Zweifeln, vor allem nicht, was den linken anbetraf.
«Gut«, sagte er.»Also, Sir, von jetzt an behandeln wir dies hier nicht als Unfall, sondern wir ermitteln wegen versuchten Mordes. Dessen ungeachtet tut es mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß die Feuerwehr meint, es werde noch ein Weilchen dauern, bis sie Sie hier loseisen kann. Es ist noch weiteres Gerät erforderlich. Können Sie sich gedulden?«Er wartete eine Antwort gar nicht erst ab, sondern fuhr fort:»Wie ich schon sagte, ein Arzt ist da und wird zu Ihnen kommen, aber wenn Sie ihn nicht so dringend brauchen, hat er hinten noch zwei andere, die übel zugerichtet sind. Ich hoffe, Sie können auch das noch geduldig abwarten.«
Ich nickte leicht. Ich würde mich noch stundenlang gedulden, wenn ich nur nicht verbrennen mußte.
«Wieso«, fragte ich,»sollte denn jemand auf uns geschossen haben?«
«Haben Sie eine Idee?«
«Nicht die geringste.«
«Unglücklicherweise«, sagte er,»gibt es nicht in allen Fällen einen nachvollziehbaren Grund.«
Ich sah ihm in die Augen.»Ich wohne in Hungerford«, sagte ich.
«Ja, Sir, das hat man mir schon gesagt. «Er nickte und rutschte aus dem Auto hinaus, und ich blieb zurück und dachte an die Zeit, als in Hungerford ein Amokschütze viele unschuldige Menschen niedergeschossen hatte, einige davon in ihren Autos, und das stille Landstädtchen in einen Ort des Grauens verwandelt hatte. Niemand, der in Hungerford wohnte, würde es je wieder für ausgeschlossen halten, daß auch er das Opfer eines Willkürverbrechens werden konnte.
Die Kugel, die in Simms eingedrungen war, wäre durch meinen Hals oder Kopf gegangen, dachte ich, wenn ich mich nicht gerade umgedreht hätte, um mit Martha zu sprechen. Ich hatte meinen Kopf zwischen die beiden Kopfstützen geschoben, um sie besser sehen zu können. Ich versuchte zu rekonstruieren, was dann passiert war, aber ich hatte nicht mitbekommen, wie Simms getroffen wurde, hatte nur den Knall und das Splittern der Scheibe gehört und das warme Blut gespürt, das solange aus seiner getroffenen Halsschlagader gespritzt war, wie er gebraucht hatte, um zu sterben. Er war schon tot gewesen, bevor noch jemand zu schreien angefangen hatte — der Strahl des Blutes war da schon versiegt gewesen.
Das Steuerrad war hart gegen seine Brust gerammt worden, und das Armaturenbrett, das auf seiner Seite tiefer herabgezogen war als auf meiner, war nach vorn gekippt und hatte sich über seine Knie geschoben. Seine Kante drückte mir unangenehm auf den Bauch, und ich konnte wohl sehen, daß sie mich, wenn sie nur ein paar Zentimeter weiter nach innen geschoben worden wäre, in zwei Hälften zerteilt hätte.
Eine Menge offiziell aussehender Leute kamen mit Maßbändern und Kameras daher, machten vor allem Aufnahmen von Simms und berieten sich mit gedämpfter Stimme. Ein Polizeiarzt setzte feierlich das Stethoskop auf die Brust von Simms und erklärte ihn für tot und mich — ohne sich weiter mit dem Stethoskop abzugeben — für lebendig.