«Was ist denn Spionagesaft?«fragte ich fasziniert.
«Oh, dies hier. «Sie griff in die Schublade und zog eine Spraydose heraus.»Es ist nur meine Privatbezeichnung dafür. Sie sprühen dieses Zeug auf die Briefumschläge von anderen, und es macht das Papier durchsichtig, so daß Sie die persönlichen Schreiben darin lesen können. «Sie sah mein Gesicht und lachte.»Die Banken haben das Problem schon dadurch gelöst, daß sie die Innenseiten ihrer
Umschläge mit Mustern bedrucken. Wenn Sie deren Briefe besprühen, kriegen Sie nur Muster zu sehen.«
«Wofür hat Greville das denn benutzt?«
«Irgend jemand hat es ihm mal geschenkt, glaube ich. Er hat es nicht oft benützt, nur manchmal, um zu prüfen, ob es lohnte, Sachen aufzumachen, die nach Werbung aussahen.«
Sie legte ein weißes Blatt Papier über einen der Briefe, die auf dem Tisch lagen, und sprühte ein wenig von der Flüssigkeit darauf. Sofort wurde das Papier transparent, so daß man den Brief darunter lesen konnte, und wurde dann, langsam trocknend, wieder undurchsichtig.
«Gemein, was?«sagte sie.
«Sehr.«
Sie wollte die Spraydose wieder in die Schublade zurücktun, aber ich sagte ihr, sie solle sie auf dem Schreibtisch stehen lassen, und dann holte ich auch die anderen Stücke alle heraus und postierte sie, für jedermann sichtbar, um die Dose herum. Soweit ich erkennen konnte, verfügte keines über eine Weckvorrichtung.
«Sie erwähnten irgendwann mal eine Weltuhr«, sagte ich,»aber hier ist keine dabei.«
«Ich habe einen Wecker in meinem Büro«, sagte sie hilfsbereit.
«Soll ich Ihnen den holen?«
«Hm, ja, vielleicht. Könnten Sie ihn auf vier Uhr fünfzehn stellen?«
«Klar, auf jede Zeit, die Sie wünschen.«
Sie verschwand und kehrte wieder, an einem winzigen, schwarzen Ding von der Größe einer Kreditkarte herumfummelnd, das sich als ein höchst vielseitiger Zeitmesser entpuppte.
«Jetzt haben wir’s«, sagte sie.»Vier Uhr fünfzehn — sechzehn Uhr fünfzehn meinen Sie doch, nicht wahr?«Sie stellte die Uhr auf den Schreibtisch.
«Heute nachmittag, ja. Irgendwo ist hier ein Wecker, der immer um vier Uhr zwanzig losklingelt. Ich dachte, ich könnte den vielleicht mal aufspüren.«
Ihre Augen weiteten sich.»Oh, aber das ist doch Mr. Franklins Uhr.«
«Welche?«fragte ich.
«Er hat immer nur eine getragen. Die ist auch ein Computer, denn sie hat einen Kalender und einen Kompaß.«
Aber diese Uhr, so ging mir durch den Kopf, lag neben meinem Bett in Hungerford.
«Ich glaube fast«, sagte ich,»daß er mehr als nur einen auf vier Uhr zwanzig eingestellten Wecker hatte.«
Die blonden Augenbrauen hoben sich.»Ich habe mich manchmal gefragt, warum«, sagte sie.»Ich meine, warum vier Uhr zwanzig? Wenn er im Lagerraum war und der Wecker in seiner Uhr piepste, dann hörte er immer für ein paar Augenblicke mit dem auf, was er gerade tat. Ich fragte ihn mal danach, na ja, mehr so indirekt, aber er gab eigentlich keine Antwort darauf, sondern sagte nur, es sei eine für die Kommunikation sehr geeignete Zeit, oder irgend so etwas. Mir wurde nicht klar, was er damit meinte, aber das war schon in Ordnung, denn er wollte ja gar nicht, daß ich’s verstand.«
Sie sagte das ohne Groll, aber mit Traurigkeit. Ich dachte, daß es für Greville sicher eine ebensogroße Freude gewesen war, June um sich zu haben, wie für mich. Diese wache Intelligenz, diese unverdorbene Fröhlichkeit, dieser gesunde Menschenverstand! Er hatte sie jedenfalls genug gemocht, um ihr Rätsel aufzugeben und sein Spielzeug mit ihr zu teilen.
«Was ist das hier?«fragte ich und nahm einen schmalen grauen Apparat mit schwarzen Ohrstöpseln an einem Kopfband, die mittels eines Kabels mit so etwas wie einem Walkman verbunden waren, in die Hand, wobei allerdings keine Ab spielvorrichtung für Kassetten in dem Teil zu sehen war, der der Recorder hätte sein können.
«Das ist ein Klangverstärker. Der ist eigentlich für taube Menschen gedacht, aber Mr. Franklin hat ihn mal jemandem abgenommen, der ihn dazu benutzte, ein vertrauliches Gespräch mitzuhören, das er mit einem anderen Händler führte. Das war in Tucson. Er erzählte damals, daß er so wütend gewesen sei, daß er dem Mann, der ihn da belauscht hatte, einfach diesen Verstärker mitsamt dem kleinen Kopfhörer weggerissen habe und dann damit davongegangen sei, drohende Bemerkungen von wegen Handelsspionage vor sich hinmurmelnd, so daß der Mann nicht mal einen Versuch unternommen habe, sich die Sachen wiederzuholen. «Sie machte eine Pause.»Setzen Sie mal den Kopfhörer auf. Dann können Sie alles hören, was irgend jemand irgendwo hier in der Firma sagt. Das Ding ist ziemlich leistungsstark. Eigentlich unheimlich.«
Ich setzte den kleinen, ultraleichten Kopfhörer auf und drückte die EIN-Taste auf dem zigarettenschachtelgroßen Verstärker — und schon konnte ich Annette auf der anderen Seite des Flurs zu Lily sagen hören, sie solle daran denken, sich bei Derek für den Zahnarzt freigeben zu lassen.
Ich nahm den Kopfhörer wieder ab und sah June an.
«Was haben Sie gehört?«fragte sie.»Geheimnisse?«
«Diesmal nicht, nein.«
«Aber unheimlich ist’s schon.«
«Sie sagen es.«
Die Klangqualität war wirklich hervorragend, das Mikrophon und der Verstärker für diese Größe von erstaunlicher Empfindlichkeit. Einige von Grevilles Spielsachen waren, so dachte ich, ganz entschieden unerfreulich.
«Mr. Franklin hat mir auch gesagt, daß da irgendwo ein Stimmenumwandler dabei ist, den man ans Telefon anschließen kann und der die Klangfarbe einer Stimme verändern, eine Frau wie einen Mann klingen lassen kann. Er meinte, daß es ein ganz ausgezeichnetes Gerät gerade für Frauen sei, die allein lebten, würden sie dann doch nicht mit obszönen Anrufen belästigt werden. Niemand würde mitkriegen, daß sie allein und verwundbar seien.«
Ich lächelte.»Könnte aber auch einen echten Freund durcheinanderbringen, der in unschuldigster Absicht anruft.«
«Na ja, die würde man wohl warnen müssen«, stimmte sie zu.
«Mr. Franklin war immer sehr begeistert von Frauen, die sich zu schützen wissen.«
«Mm«, sagte ich nur.
«Er meinte, der Dschungel breite sich immer weiter aus.«
«Haben Sie auch so einen Stimmenumwandler zu Hause?«fragte ich.
«Nein, wir sprachen darüber erst kurz vor…«Sie schwieg eine Weile.»Nun ja… ach, möchten Sie ein Sandwich zum Lunch haben?«
«Ja, bitte.«
Sie nickte und war fort. Ich seufzte, versuchte, mich den schwierigen Briefen zu widmen, und war froh über die Unterbrechung, als das Telefon klingelte.
Am Apparat war Elliot Trelawney und bat darum, falls es mir nichts ausmache, ihm sofort und durch Boten die Vaccaro-Aufzeichnungen zu schicken, da sie noch am heutigen Nachmittag eine Ausschußsitzung hätten.
«Vaccaro-Aufzeichnungen«, wiederholte ich. Ich hatte sie glatt vergessen. Einen Augenblick lang konnte ich mich nicht einmal mehr daran erinnern, wo sie waren.
«Sie sagten, Sie wollten sie mir heute morgen zuschik-ken«, sagte Trelawney mit der Andeutung eines höflichen Vorwurfs.»Erinnern Sie sich?«
«Ja«, sagte ich unbestimmt.
Wo, zum Teufel, hatte ich sie? O ja, sie waren in Grevilles Wohnzimmer. Irgendwo in dem Chaos dort. Irgendwo dort, sofern der Dieb sie nicht mitgenommen hatte.
Ich entschuldigte mich. Ich sagte nicht gerade, daß ich zweimal nahe daran gewesen war, umgebracht zu werden, seit ich das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, und daß dies meiner Konzentrationsfähigkeit nicht gut bekommen war. Ich sagte vielmehr, alles mögliche sei mir dazwischengekommen. Es tue mir wirklich leid. Ich würde versuchen, sie ihm ins Gericht zu schicken, sagen wir, bis… ja, bis wann?
«Der Ausschuß tritt um zwei Uhr zusammen, und Vac-caro steht als erster auf der Tagesordnung«, sagte er.
«Die Aufzeichnungen liegen noch in Grevilles Haus«, antwortete ich,»aber ich sorge dafür, daß Sie sie bekommen.«