Vielleicht hatte es einen gegeben, der nur gestohlen worden war. Wenn er aber gestohlen worden war, dann wußte der Dieb lediglich, daß sich die Diamanten bei einem Schleifer befanden. Und er wußte, daß es keinen Zweck hatte, sein, das heißt Grevilles Haus danach zu durchsuchen. Nutzlose Gedanken, die sich im Kreise drehten.
Ich reckte Hals und Rücken, lockerte ein paar der Muskeln, die seit dem Autounfall ein bißchen schmerzten.
June kam herein und sagte:»Sie sehen ziemlich geschafft aus«, legte dann erschrocken die Hand vor den Mund und fügte hinzu:»Also, zu Mr. Franklin hätte ich so etwas nie und nimmer gesagt.«
«Ich bin nicht er.«
«Nein, aber… Sie sind der Chef.«
«Dann denken Sie mal darüber nach, wer uns eine Liste mit Diamantschleifern liefern könnte, und zwar vor allem von solchen, die auf Sonderanfertigungen spezialisiert sind, angefangen mit Antwerpen. Was wir brauchen, ist so was wie Gelbe Seiten, ein Telefonverzeichnis der Branche. Nach Antwerpen auch von New York, Tel Aviv und Bombay, stimmt’s? Sind das nicht die vier wichtigsten Zentren?«Ich war gut vorbereitet.
«Aber wir handeln doch nicht mit…«
«Sagen Sie’s nicht«, unterbrach ich sie.»Wir tun’s nämlich doch. Greville hat welche für Prospero Jenks gekauft, der sie so geschliffen haben möchte, daß sie zu seinen Skulpturen oder Phantasiestücken, oder wie immer man das nennt, passen.«
«Oh. «Sie sah mich erst verständnislos und dann interessiert an.
«Ja, gut, ich bin sicher, daß ich das erledigen kann. Soll ich es gleich machen?«
«Ja, bitte.«
Sie ging bis zur Tür, drehte sich dann mit einem Lächeln zu mir um.»Sie sehen noch immer ziem.«
«Mm. Raus mit Ihnen und an die Arbeit.«
Ich beobachtete, wie ihre Rückansicht verschwand. Grauer Rock, weiße Bluse. Blondes Haar, von Kämmen hinter den Ohren gehalten. Lange Beine. Flache Schuhe. June ab.
Der Tag schleppte sich dahin. Ich stellte im Tresorraum selbst drei Bestellungen zusammen und ließ Annette nachprüfen, ob auch alles stimmte, was allem Anschein nach der Fall war. Dann begab ich mich auf einen langsamen Rundgang durch alle Räume, schaute bei Alfie vorbei, um zu sehen, wie er seine Pakete packte, schaute Lily zu, die mit ihrer verknautschten Gouvernantenmiene endlos von kleinem Schubfach zu kleinem Schubfach lief und Sendungen zusammenstellte, sah Jason mit den schweren Kartons gerade eingegangener Lieferungen hantieren, verweilte einen Augenblick neben der kräftig aussehenden Tina, die ich am wenigsten kannte und die die Neuzugänge anhand der Lieferscheine prüfte und in flache Schalen sortierte.
Niemand schenkte mir groß Beachtung. Ich war ihnen bereits so vertraut wie die Tapete. Alfie machte keine anzüglichen Bemerkungen mehr über >Dozen Rosesc, und Jason behielt seine Witze für sich, warf mir allerdings einen dunklen Seitenblick zu. Lily sagte voller Demut:»Ja, Derek«, Annette blickte ängstlich drein, June war beschäftigt. Ich kehrte in Grevilles Büro zurück und unternahm einen erneuten Anlauf, um endlich die Post zu erledigen.
Bis vier Uhr hatte June — neben ihren normalen, den Lagerbewegungen geltenden Computerarbeiten — Reaktionen auf ihre» ausgestreckten Fühler «erhalten, wie sie das nannte, und eine lange Liste von Diamantschleifern in Antwerpen und eine kürzere von solchen in New York vorliegen. Tel Aviv» kam«, hatte aber Sprachprobleme, und für Bombay lag nichts vor, aber sie glaubte auch nicht, daß Mr. Franklin etwas dorthin geschickt haben würde, denn angesichts der Nähe von Antwerpen wäre das recht witzlos gewesen. Sie brachte mir die Listen und ging dann.
Bei der Geschwindigkeit, mit der die übervorsichtigen Diamantenhändler arbeiteten, dachte ich und nahm die Namensliste in die Hand, würde es allein schon eine ganze Woche dauern, um zunächst nur von denen in Antwerpen simple Ja/Nein-Antworten zu bekommen. Vielleicht war es aber den Versuch doch wert. Es mußte dringend was geschehen. Einer der Briefe war von der Bank, die daran erinnerte, daß Kreditzinsen fällig seien.
Plötzlich fing Junes winziger Wecker zu piepen an. Alle anderen Stücke auf der Schreibtischplatte blieben stumm und unbewegt. June kehrte mit hoher Geschwindigkeit durch die Tür zurück und wandte ihnen ihre lebhafte Aufmerksamkeit zu.
«Noch fünf Minuten«, sagte ich ruhig.»Sind alle Spielsachen gut sichtbar aufgebaut?«
Sie überprüfte schnell die Schubladen und spähte in die Aktenschränke, ließ alles weit offenstehen.
«Kann keine mehr finden«, sagte sie.»Wieso kommt es so darauf an?«
Sie sah mich an. Ich lächelte schief.
«Greville hat auch mir ein Rätsel hinterlassen«, sagte ich.»Ich versuche es zu lösen, obwohl ich gar nicht weiß, wo ich eigentlich ansetzen soll.«
«Oh. «Irgendwie ergab das auch ohne weitere Erklärungen einen Sinn für sie.»Wie meine Gehaltserhöhung?«
Ich nickte.»Etwa in der Art. «Aber nicht so positiv, dachte ich. Nicht so sicher. Ihr hatte er wenigstens zu verstehen gegeben, daß die Lösung, die sie suchen sollte, tatsächlich vorhanden war.
Die Minuten vergingen, und als es nach Junes Uhr genau zwanzig nach vier war, erklang prompt der leise Weckton. Sehr fern, ganz und gar nicht laut. Eindringlich. June blickte ziemlich alarmiert auf die versammelten Gerätschaften und legte ihr Ohr an sie.
«Ich werde täglich um vier Uhr zwanzig an Dich denken.«
Clarissa hatte das auf die Karte geschrieben, die sie zusammen mit den Rosen zur Bestattung geschickt hatte. Greville hatte offensichtlich eben dies auch täglich in seinem Büro getan. Das war ihre eigene, ganz private Zwiesprache gewesen, hatte überhaupt nichts mit Diamanten zu tun. Ich mußte mit Bedauern eingestehen, daß ich nichts erfahren würde von dem, was er da benutzt hatte, um sich selbst daran zu erinnern, daß er liebte und geliebt wurde.
Der gedämpfte Weckton verstummte wieder. June hob den Kopf und runzelte die Stirn.
«Von denen hier war’s keins«, sagte sie.
«Nein. Es kam noch immer aus dem Inneren des Schreibtisches.«
«Aber das kann nicht sein. «Sie war verwirrt.»Ich habe doch alles herausgenommen.«
«Es muß noch eine weitere Schublade geben.«
Sie schüttelte den Kopf, aber es war die einzig vernünftige Erklärung.
«Fragen Sie mal Annette«, schlug ich vor.
Annette, befragt, sagte mit besorgtem Schmollen, daß sie nicht das geringste von einem weiteren Schubfach wisse. Wir blickten alle auf die keinerlei Antwort gebende, sechs Zentimeter dicke Schreibtischplatte aus schwarzem, stark gemasertem Holz hinab. Sie konnte in gar keinem Falle ein weiteres Fach sein, aber trotzdem gab es keine andere Möglichkeit.
Ich dachte an das grüne Steinkästchen. An das Schlüsselloch, das gar kein Schlüsselloch war, und an den herausgleitenden Boden.
Zum großen Erstaunen von Annette und June ging ich in die Knie und besah mir die Platte von unten, wo der freie Raum für die Beine war und man sie sehen konnte. Das Holz sah dort genauso solide aus wie die Oberfläche, aber in der Mitte, ungefähr zehn Zentimeter von der Vorderkante entfernt, war etwas, das wie eine Art Riegel aussah. Befriedigt setzte ich mich wieder auf den schwarzen Lederstuhl und tastete nun unter der Platte nach dem Riegel. Ich entdeckte, daß er sich, wenn man Druck auf ihn ausübte, von einem fortbewegte. Ich tat dies, schob ihn nach vorn, und absolut gar nichts passierte.
Etwas mußte aber geschehen sein, überlegte ich. Der Riegel war doch nicht nur so zum Spaßvergnügen dort. Nichts war bei Greville umsonst da. Ich drückte ihn wieder mit aller Kraft nach vorn und versuchte nun gleichzei-tig, alles andere, was ich sonst noch zu erreichen vermochte, anzuheben, wegzuschieben oder sonst irgendwie zu bewegen. Nichts rührte sich. Ich schlug frustriert mit der Faust auf den Schreibtisch, und da fiel ein Stück von der Vorderkante der so solide aussehenden Platte ab und mir in den Schoß.