Der Eindringling war offenbar bis in die 10. Etage hinaufgefahren, über eine Nottreppe aufs Dach gelangt und hatte sich dann mit irgendwelchen Hilfsmitteln außen am Gebäude bis in den 8. Stock hinunterbewegt, wo er ein Fenster eingeschlagen hatte und in die Büroräume eingestiegen war.
«Was für Hilfsmittel?«fragte ich.
«Das wissen wir nicht, Sir. Was immer es war, er hat’s wieder mitgenommen. Vielleicht ein Seil. «Er zuckte die Achseln.»Wir haben uns bisher nur flüchtig hier umgesehen. Wir wollten wissen, was gestohlen worden ist, bevor wir… äh… Also, wir möchten unsere Zeit ja auch nicht wegen nichts und wieder nichts vertun.«
Ich nickte. Wie Grevilles gestohlene Schuhe, dachte ich.
«Das Viertel hier um Hatton Garden herum ist weitgehend in der Hand der Edelsteinhändler. Wir haben andauernd mit Einbrüchen oder versuchten Einbrüchen zu tun.«
Der andere Polizist sagte:»Der Laden hier ist natürlich vollgestopft mit Steinen, aber der Tresorraum ist noch zu, und Mrs. Adams meint, daß es so aussehe, als ob in den Ausstellungsräumen nichts fehle. Mr. Franklin hat einen Schlüssel zum Tresorraum, wo die wertvolleren, geschliffenen Steine aufbewahrt werden.«
Mr. Franklin hatte keine Schlüssel mehr. Die Schlüssel von Mr. Franklin steckten in meiner Tasche. Ich nahm an, daß es nichts schaden würde, wenn ich sie hervorholte.
Der Anblick des ihr wahrscheinlich nur allzu vertrauten Schlüsselbundes ließ Tränen in Annette Adams’ Augen steigen. Sie setzte den Becher ab, kramte nach einem Taschentuch und rief» Dann ist er also wirklich tot!«, als ob sie nicht schon vorher ernsthaft davon überzeugt gewesen wäre.
Als sie sich ein bißchen erholt hatte, bat ich sie, uns den Schlüssel zum Tresorraum zu zeigen. Es war der längste und schmälste am Schlüsselbund, und kurz darauf schritten wir alle durch die aufgehaltene Tür und einen Mittelgang entlang, zu dessen beiden Seiten sich geräumige Büros befanden. Vom Schock gezeichnete Gesichter blickten uns an, als wir vorbeigingen. Vor einer ganz gewöhnlich aussehenden Tür, die man fälschlicherweise auch für eine Schranktür hätte halten können und die ganz gewiß nicht wie die zu einem Tresorraum aussah, blieben wir stehen.
«Das ist sie«, sagte Annette Adams und nickte mit dem Kopf. Ich steckte also den schmalen Schlüssel in das kleine, ganz normale Schlüsselloch und fand zu meiner Überraschung, daß ich ihn gegen den Uhrzeigersinn drehen mußte. Die dicke, schwere Tür gab meinem Druck nach und schwang nach innen zur rechten Seite hin auf, wobei automatisch ein Licht anging und beleuchtete, was tatsächlich eher wie ein riesiger, begehbarer Schrank aussah, in dem viele Reihen von weißen Pappkartons auf einfachen, weiß gestrichenen Regalen standen, die die gesamte linke Seite des Raumes einnahmen.
Alle sahen sich schweigend um. Nichts schien durcheinandergebracht worden zu sein.
«Wer weiß denn, was in diesen Schachteln drin sein muß?«fragte ich und erhielt die erwartete Antwort — nur mein Bruder.
Ich machte einen Schritt in den Raum hinein und nahm den Deckel von einer der am nächsten stehenden Schachteln, auf dem ein Etikett mit der Aufschrift» MgAl2O4, Burma «klebte. Darin befand sich etwa ein Dutzend glänzende weiße Umschläge, alle im Format der Schachtel. Ich holte einen heraus, um ihn zu öffnen.
«Seien Sie vorsichtig!«rief Annette Adams aus, als sie sah, wie ich, an meinen Krücken balancierend, ungeschickt damit herumhantierte.»Man muß diese Päckchen auffalten.«
Ich übergab ihr den Umschlag, den ich gerade in der Hand hielt, und sie faltete ihn ganz vorsichtig auf ihrer offenen Hand auseinander. Darin lagen nun, auf weißes Tuch gebettet, zwei große, rote, durchsichtige Steine, geschliffen und von länglicher Form, deren intensiv im Licht strahlende Farbe fast zu pulsieren schien.
«Sind das Rubine?«fragte ich, zutiefst beeindruckt.
Annette Adams lächelte nachsichtig.»Nein, das ist Spinell. Sehr schöne Stücke. Mit Rubinen haben wir selten zu tun.«
«Sind hier auch Diamanten drin?«fragte einer der Polizisten.
«Nein, wir handeln nicht mit Diamanten. Fast nie.«
Ich bat sie, in ein paar weitere Schachteln zu schauen, was sie auch tat, nachdem sie zuvor die beiden roten Steine sorgfältig wieder eingewickelt, in die Schachtel gepackt und diese an ihren alten Platz zurückgestellt hatte. Wir sahen ihr zu, wie sie sich reckte und bückte, um wahllos Kästchen aus den verschiedenen Regalbrettern zu öffnen und gelegentlich auch ein Päckchen zu genauerer Prüfung herauszunehmen. Schließlich schüttelte sie den Kopf und sagte, daß überhaupt nichts fehle, jedenfalls nicht, soweit sie sehen könne.
«Der eigentliche Wert dieser Steine liegt in ihrer Quantität«, sagte sie.»Die einzelnen Steine kosten keineswegs ein Vermögen. Aber wir verkaufen sie im Dutzend, zu Hunderten…«Ihre Stimme verlor sich in einer Art Verlassenheit.»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte sie.»Mit den Aufträgen, meine ich.«
Die Polizisten berührte dieses Problem nicht. Wenn hier nichts fehle, dann gebe es andere Einbrüche, um die sie sich kümmern müßten, und sie würden einen Bericht anfertigen, aber vorerst auf Wiedersehen, oder etwas in dem Sinne.
Als sie fort waren, standen Annette Adams und ich im Flur und sahen uns an.
«Was soll ich machen?«sagte sie.»Läuft das Geschäft weiter?«
Ich mochte ihr nicht sagen, daß ich nicht den blassesten Schimmer hatte. Ich fragte:»Hatte Greville ein eigenes Büro?«
«Da herrscht ja gerade die allergrößte Unordnung«, sagte sie, drehte sich um und ging den Flur zurück bis zu einem großen Eckzimmer in der Nähe des Empfangs.»Hier.«
Ich war ihr gefolgt und sah nun, was sie mit» Unordnung «gemeint hatte. Der Inhalt aller weit herausgerissener Schubfächer schien auf dem Fußboden gelandet zu sein, im wesentlichen Papier. Die Bilder waren von den Wänden genommen und auf die Erde geworfen worden. Ein Aktenschrank lag umgekippt auf der Seite wie ein gefallener Soldat. Der Schreibtisch war ein einziges Schlachtfeld.
«Die Polizei meint, der Einbrecher habe wohl hinter den Bildern nach einem Safe gesucht. Aber es gibt keinen… nur den Tresorraum. «Sie seufzte unglücklich.»Es ist alles so sinnlos.«
Ich drehte mich um.»Wie viele Mitarbeiter gibt es hier insgesamt?«fragte ich.
«Sechs. Und Mr. Franklin natürlich. «Sie schluckte.»Mein Himmel!«
«Mm«, stimmte ich ihr zu.»Gibt es einen Ort, wo ich mal mit allen sprechen kann?«
Sie nickte stumm und führte mich in einen anderen großen Büroraum, wo bereits drei der Mitarbeiter versammelt waren, großäugig und führungslos. Die anderen beiden kamen herbei, als sie gerufen wurden. Vier Frauen und zwei Männer, alle besorgt und verunsichert und Entscheidungen von mir erwartend.
Greville hatte, das sah ich sofort, keine potentiellen Führungskräfte um sich geschart. Auch Annette Adams war keine aggressive, hinter der Bühne auf ihren Auftritt wartende Managerin, sondern wohl eher eine echte Stellvertreterin, befähigt, Aufträge auszuführen, aber nicht in der Lage, solche zu initiieren. Alles in allem nicht so gut für mich.
Ich stellte mich vor und berichtete, was Greville widerfahren war.
Wie ich zu meiner Freude feststellen konnte, hatten sie ihn gemocht. Es flossen Tränen um seinetwillen. Ich sagte, daß ich ihre Hilfe brauche, denn es gebe da sicherlich Menschen, denen ich seinen Tod mitteilen müsse, etwa seinen Anwälten und seinem Steuerberater und seinen engsten Freunden — ich wisse aber überhaupt nicht, wer sie seien. Ich würde gern, sagte ich, eine Liste anfertigen, und ich setzte mich, mit Papier und Bleistift ausgerüstet, neben einen der Schreibtische.
Annette sagte, sie wolle mal Grevilles Adreßbüchlein aus seinem Büro holen, kehrte aber nach einer Weile frustriert wieder zurück — sie hatte es in all dem Chaos nicht finden können.
«Es muß doch noch andere Unterlagen geben«, sagte ich.»Was ist mit diesem Computer da?«Ich zeigte auf ihn.»Haben Sie nicht Adressen gespeichert?«