Ich sah, wie Teile von dem Gerüst auf ihn herabfielen«, sagte er.
Es hatte mir die Sprache verschlagen.
«Wir sprachen im Hotel miteinander. In der Lounge dort. Sie war fast leer… dann gingen wir die Straße hinunter bis zu der Stelle, wo ich mein Auto geparkt hatte. Wir verabschiedeten uns. Er überquerte die Straße und ging weiter, und ich sah ihm nach. Ich hoffte, daß er sich noch mal umdrehen und mir zuwinken würde… aber er tat’s nicht.«
Vergebung war eine Sache, dachte ich, die Freundschaft aber war dahin gewesen. Was erwartete er? Absolution und Tröstung? Vielleicht hätte Greville ihm eines Tages auch dies beides gewährt, ich jedoch konnte es nicht.
Prospero Jenks sagte mit schmerzlichem Erinnern:»Grev merkte nicht, was geschah… Es gab keinerlei Warnung. Nur ein klirrendes Geräusch und herabfallendes Metall und abstürzende Menschen. Alles krachte so schnell herunter. Begrub ihn unter sich. Ich konnte ihn nicht mehr sehen… Ich lief über die Straße, um ihn herauszuziehen, und da waren Körper… und er… er… ich dachte, er wäre schon tot. Sein Kopf blutete… in seinem Bauch steckte eine Eisenstange und eine war in sein Bein eingedrungen… es war… ich kann nicht… ich versuche, es zu vergessen, und sehe es doch die ganze Zeit vor mir.«
Ich wartete, und nach einer Weile fuhr er fort:»Ich bewegte ihn nicht. Konnte ich gar nicht. Da war so viel Blut. und ein Mann lag auf seinen Beinen. und ein anderer Mann stöhnte. Leute kamen angelaufen… und dann die Polizei… es war ein einziges Chaos…«
Er schwieg wieder, und ich sagte:»Als die Polizei kam, warum sind Sie da nicht bei Greville geblieben und haben ihm geholfen? Warum haben Sie ihn nicht einmal für die Polizei identifiziert?«
Sein echter Schmerz wurde von einer Welle der Angst überflutet. Diese Furcht war aber nur einen Augenblick da, dann schüttelte er sie wieder ab.
«Sie wissen doch, wie das ist. «Er warf mir den Blick eines kleinen Jungen zu, der sich schämt — ein Blick ähnlich wie jener, der in seinen Augen gewesen war, als er den Austausch der Steine gestanden hatte.»Nur nichts damit zu tun haben! Ich wollte da nicht mit reingezogen werden… ich dachte ja auch, er wäre tot.«
Ich hatte irgendwie den Eindruck, daß er mich belog. Nicht, was den Umstand anbetraf, daß er den Unfall mit angesehen hatte — seine Beschreibung von Grevilles Verletzungen war zu genau gewesen.
«Sind Sie… dann einfach weggefahren?«fragte ich düster.
«Nein, das konnte ich nicht. Eine Ewigkeit nicht. Die Polizei sperrte die Straße ab und nahm endlos Zeugenaussagen auf. Irgendwas von wegen Verantwortung für die Aufklärung des Hergangs und Forderungen an die Versicherung. Aber ich konnte ihnen nicht helfen. Ich hatte ja nicht gesehen, warum das Gerüst herabgestürzt war. Ich verspürte angesichts all des Blutes Übelkeit… ich saß da in meinem Auto, bis sie uns wegfahren ließen. Grev hatten sie schon vorher im Krankenwagen weggebracht. und die Stange stak noch immer in seinem Bauch.«
Die Erinnerung ließ den Ekel mit Macht wieder aufleben.
«Sie wußten inzwischen, daß er noch am Leben war«, sagte ich.
Er war schockiert.»Wie denn? Wie hätte ich das denn wissen sollen?«
«Sie deckten sein Gesicht nicht zu.«
«Er lag im Sterben. Jeder konnte das sehen. Sein Kopf war schwer getroffen. und blutete.«
Tote bluten nicht, dachte ich, sprach es aber nicht aus. Prospero Jenks blickte sich schon um, wohinein er sich übergeben könnte, und ich fragte mich, wie oft er sich wohl in den zurückliegenden elf Tagen tatsächlich übergeben hatte.
Laut sagte ich:»Worüber haben Sie mit ihm im Orwell Hotel gesprochen?«
Er sah mich erstaunt an.»Sie wissen, über was.«
«Er beschuldigte Sie, die Steine vertauscht zu haben.«
«Ja. «Er schluckte.»Nun, ich entschuldigte mich. Sagte, daß es mir leid tue. Was auch stimmte. Er konnte das sehen. Er fragte, warum ich das getan hätte, wo man mir doch einfach auf die Schliche kommen mußte, aber als ich es tat, da war’s so ein Impuls, und ich dachte überhaupt nicht ans Erwischtwerden, wie ich Ihnen ja schon gesagt habe.«
«Und was meinte er?«
«Er schüttelte den Kopf, als ob ich ein kleines Kind wäre. Er war eher traurig als wütend. Ich sagte, ich würde ihm die Diamanten natürlich wiedergeben, und bat ihn, mir zu verzeihen.«
«Was er tat?«
«Ja, das sagte ich doch schon. Ich fragte ihn, ob wir auch weiterhin Geschäfte miteinander machen könnten. Ich meine, niemand war so gut wie Grev, wenn es darum ging, wundervolle Steine aufzutreiben, und er mochte die Sachen immer, die ich machte. Es war gut für uns beide. Ich wollte diesen Zustand wiederherstellen.«
Eine solche Wiederherstellung gehörte zu den Unmöglichkeiten des Daseins, dachte ich. Nichts blieb je, was es war.
«War Greville einverstanden?«fragte ich.
«Ja. Er sagte, er hätte die Diamanten bei sich, müsse aber Vorkehrungen treffen. Er sagte nicht, welche. Er sagte, er würde anfangs der Woche hier zu mir ins Geschäft kommen, und dann sollte ich ihm die fünf Steine aushändigen und die Tropfen und Sterne bezahlen. Er verlangte Barzahlung und wollte mir ein oder zwei Tage einräumen, um das Geld aufzutreiben.«
«Normalerweise hat er für seine Lieferungen keine Barzahlung verlangt, nicht wahr? Sie haben den Spinell und den Bergkristall jedenfalls mit Scheck bezahlt.«
«Ja, also. «Wieder der schnelle Blick des Jungen, der sich schämt.»Er sagte, in Zukunft nur noch Barzahlung, weil er mir nicht trauen könne. Aber das wußten Sie ja nicht.«
Greville hatte ihm ganz gewiß nicht mehr vertraut, und was er nach Prosperos Bericht zu diesem gesagt hatte, klang so, als habe er die Steine da in Ipswich bei sich — wo er doch genau wußte, daß sie sich in diesem Augenblick auf einer Fähre befanden, die gerade den Ärmelkanal überquerte. Hatte er das wirklich so gesagt? fragte ich mich. Vielleicht hatte Prospero Jenks nicht richtig gehört, ihn falsch verstanden — aber er hatte mit Bestimmtheit geglaubt, daß Greville die Diamanten bei sich hätte.
«Wenn ich Ihnen die fünf Diamanten jetzt gebe, ist dann alles in Ordnung?«sagte er.»Ich meine, wo Grev mir verziehen hat… werden Sie das doch nicht wieder zurücknehmen und Krach schlagen, oder? Nicht die Polizei… Grev hätte das nicht gewollt, Sie wissen, daß er das nicht gewollt hätte.«
Ich antwortete nicht. Greville hätte abwägen müssen, was mehr Gewicht für ihn hatte, seine alte, aber verratene Freundschaft oder die Achtung vor dem Gesetz, und ich nahm an, daß er Prospero Jenks wohl nicht angezeigt hätte, nicht angesichts dieses ersten Vergehens, das der andere zudem eingestanden und bereut hatte.
Prospero Jenks bedachte mein Schweigen mit einem hoffnungsvollen Blick, stand von seinem Schemel auf und ging zu den Reihen kleiner Schubfächer hinüber. Er zog eins auf, nahm ein paar offensichtlich uninteressante Päckchen heraus und griff dann mit suchender Hand tief in das Fach hinein. Er förderte ein weißes Mullknäuel zutage, das von einem Stück Klebeband zusammengehalten wurde, und hielt es mir hin.
«Fünf Diamanten«, sagte er.»Die Ihren.«
Ich nahm das unscheinbare kleine Päckchen, das ganz so wie diese Musselinsäckchen voller Gewürze aussah, die Köche in Eintöpfe hängen, und wog es in der Hand. Ich konnte mit Sicherheit keinen Unterschied zwischen Kohlenstoff und Zirkon feststellen, und er konnte den Zweifel von meinem Gesicht ablesen.
«Lassen Sie sie begutachten«, sagte er mit nicht gerechtfertigter Bitterkeit, aber ich entgegnete, er solle sie gleich hier und jetzt wiegen, das jeweilige Gewicht notieren und den Zettel dann unterschreiben.
«Grev hat nie…«
«Schön dumm. Er hätte es tun sollen. Aber er hat Ihnen ja vertraut. Ich tu’s nicht.«
«Ich bitte Sie, Derek!«Er schmeichelte — aber ich war nicht Greville.
«Nein, wiegen Sie sie«, sagte ich.