«Ich lernte Henry kennen, als ich achtzehn war. Er verliebte sich in mich… verfolgte mich… ich fühlte mich geschmeichelt… und er war so gutaussehend… und nett.«
«Das ist er noch.«
«Er hatte seinen Titel schon geerbt. Meine Mutter war ganz aus dem Häuschen… sie meinte, der Altersunterschied mache gar nichts… und so heiratete ich ihn. «Sie machte eine Pause.»Wir haben einen Sohn und eine Tochter, beide sind schon erwachsen. Es war kein schlechtes Leben, aber vor Greville doch unvollständig.«
«Ein besseres Leben, als es die meisten haben«, sagte ich, um Tröstung bemüht.
«Sie sind Greville sehr ähnlich«, sagte sie unverhofft.»Sie sehen den Dingen ins Auge, ganz wie er. Sie haben seinen Sinn für Proportionen.«
«Wir hatten realistische Eltern.«
«Er hat nie viel von ihnen erzählt, nur daß an seiner Begeisterung für Edelsteine die Museen schuld waren, in die ihn seine Mutter immer mitnahm. Aber er lebte doch in der Gegenwart, schaute nach außen, nicht nach innen, und ich liebte ihn bis zum Wahnsinn und kannte ihn doch irgendwie gar nicht…«Sie schwieg, schluckte und schien entschlossen, eine weitere Einmischung ihrer Emotionen zu verhindern.
«Das ist mir mit ihm ganz genauso gegangen«, sagte ich.»Allen, glaube ich. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, laufend über sein Tun und seine Gefühle zu reden. Er fand alles andere immer sehr viel interessanter.«
«Er fehlt mir«, sagte sie.
«Was möchten Sie essen?«fragte ich.
Sie warf mir einen schnellen Blick zu und las lange in der Speisekarte, ohne sie zu sehen. Schließlich sagte sie mit einem Seufzer:
«Entscheiden Sie.«
«Hat Greville das auch immer getan?«
«Ja.«
«Wenn ich überbackene Zucchini als Vorspeise und Filetsteak in Pfeffersauce, dazu Linguine, in Olivenöl und Knoblauch geschwenkt, vorschlüge, wäre das gut?«»Ich mag keinen Knoblauch. Alles andere ja. Ungewöhnlich. Doch, nett.«
«Okay, kein Knoblauch.«
Wir gingen vor halb acht in das Restaurant hinüber und aßen, was ich vorgeschlagen hatte. Ich fragte sie, ob sie noch an diesem Abend nach York zurückfahre, ob wir schon so früh äßen, weil sie einen Zug bekommen müsse.
«Nein, ich bin für zwei Tage hier. Morgen bin ich bei der Hochzeit einer alten Freundin, am Donnerstagmorgen geht’s zurück nach York. «Sie konzentrierte sich darauf, ihre Nudeln auf die Gabel zu bekommen.»Wenn Henry und ich zusammen nach London fahren, steigen wir immer im Selfridge Hotel ab, und wenn ich allein komme, wohne ich auch dort. Wenn ich allein dort bin, legen sie mir keine Rechnung vor, sondern schicken diese gleich an Henry. «Sie aß die Linguine auf ihrer Gabel.»Ich erzähle ihm, daß ich ins Kino gehe und in Snack-Bars esse… Und er weiß, daß ich stets vor Mitternacht wieder im Hotel bin.«
Zwischen diesem Abendessen und Mitternacht blieb eine ordentlich lange Zeit.
Ich sagte:»Etwa alle fünf Wochen kamen Sie allein nach London, und Greville holte Sie am King’s Cross-Bahnhof ab, nicht wahr, und ging mit Ihnen zum Mittagessen?«
Sie sagte überrascht:»Hat er Ihnen das erzählt?«
«Nicht Auge in Auge. Haben Sie je dieses Spielzeug von ihm gesehen, diesen Hexer?«
«Ja, aber…«Sie war entsetzt.»Er hat mich doch hoffentlich nicht da reingetan?«
«Nicht namentlich und nur in eine Geheimdatei mit Kennwort. Sie sind vollkommen sicher.«
Sie drehte noch ein bißchen mit der Gabel in den Nudeln herum, den Blick gesenkt, die Gedanken woanders.
«Nach dem Lunch. «, sagte sie und fuhr dann, von Pausen unterbrochen, fort:»Wenn ich Termine hatte, dann nahm ich die wahr, oder ich erledigte Einkäufe… besorgte was, was ich mit nach Hause nehmen konnte. Ich brachte meine Sachen ins Hotel und zog mich um und fuhr dann zu Grevilles Haus. Er hatte damals natürlich auch noch diese Wohnung, aber das Haus war viel schöner. Wenn er kam, dann tranken wir was… redeten… liebten uns vielleicht auch. Wir gingen früh zum Abendessen aus und kehrten danach zum Haus zurück. «Sie schwieg. Sie sah noch immer nicht auf.
Ich sagte:»Möchten Sie jetzt zu seinem Haus hinausfahren? Vor Mitternacht?«
Nach einer Weile sagte sie:»Ich weiß nicht.«
«Ja… würden Sie gern noch einen Kaffee trinken?«
Sie nickte, mied noch immer meine Augen und schob ihren Teller beiseite. Wir saßen schweigend da, während der Ober den Tisch abräumte und den Kaffee einschenkte, und wenn sie sich nicht entschließen konnte — ich konnte es auch nicht.
Am Ende sagte ich:»Wenn Sie möchten, dann kommen Sie jetzt mit zu Grevilles Haus. Ich übernachte heute dort, aber das tut nichts zur Sache. Kommen Sie, wenn Ihnen danach ist. Halt um ihm so nahe zu sein, wie’s eben möglich ist, vielleicht zum letzten Mal. Legen Sie sich auf sein Bett, weinen Sie um ihn. Ich werde unten auf Sie warten… und Sie sicher ins Hotel bringen, bevor sich die Märchenkutsche in einen Kürbis zurückverwandelt.«
«Oha!«Sie machte aus dem, was ein Schluchzen hatte werden wollen, so etwas wie ein Lachen.»Darf ich wirklich?«
«Wann immer Sie wünschen.«»Danke. Also ja.«
«Ich sollte Sie aber besser warnen«, sagte ich,»es ist nicht gerade sehr ordentlich dort. «Ich beschrieb ihr, was sie vorfinden würde, aber beim Anblick der Wirklichkeit war sie doch untröstlich.
«Das wäre ihm zutiefst zuwider gewesen«, sagte sie.»Ich bin direkt froh, daß er das nicht sehen muß.«
Wir befanden uns im kleinen Wohnzimmer, und sie ging umher und sammelte die rosa und braunen Steinbären auf, stellte sie wieder auf ihr Brett.
«Die habe ich ihm geschenkt«, sagte sie.»Er mochte sie sehr. Sie seien aus Rhodonit«, sagte er.
«Nehmen Sie sie mit, als Erinnerung an ihn. Und da ist noch eine goldene Uhr, die Sie ihm geschenkt haben. wenn Sie die auch an sich nehmen möchten.«
Sie blieb, den letzten Bären in der Hand, stehen und sagte:»Sie sind sehr nett zu mir.«
«Das ist keine Kunst. Und er wäre wütend auf mich gewesen, wenn ich’s nicht wäre.«
«Die Bären würde ich gern nehmen. Die Uhr behalten besser Sie, wegen der Gravur.«
«Okay«, sagte ich.
«Ich glaube«, sagte sie schüchtern,»ich geh jetzt mal nach oben.«
Ich nickte.
«Kommen Sie mit«, sagte sie.
Ich sah sie an. Ihre Augen waren groß und traurig, nicht entschlossen, nicht verlangend. Unentschieden. Wie ich.
«Gut«, sagte ich.
«Herrscht dort auch so ein Chaos?«
«Ich habe ein wenig aufgeräumt.«
Sie lief vor mir die Treppe hinauf, annähernd viermal so schnell wie ich, und ich hörte ihr gequältes Aufstöhnen beim Anblick des entweihten Schlafzimmers. Als ich sie eingeholt hatte, stand sie da, blickte sich hilflos um und wandte sich dann ungezwungen mir zu, legte ihren Arm locker um meine Taille und ihren Kopf an meine Schulter. Ich warf die verdammten Krücken von mir, nahm sie aus Mitgefühl — mit ihr, aber auch mit Greville — fest in den Arm, und dann standen wir eine lange Zeit schweigend da, uns gegenseitig den so sehr benötigten Trost spendend.
Dann ließ sie ihre Arme herabsinken, setzte sich aufs Bett und strich mit der Hand glättend über das schwarzweiße Schachbrettmuster der Tagesdecke.
«Er wollte diesen Raum gerade umgestalten«, sagte sie.»Dieses Drama hier…«Sie deutete auf die weißen Möbel, den schwarzen Teppich, die schwarze Wand.»Er hatte es so übernommen. Er wollte, daß ich etwas Sanfteres wählte, etwas, was ich gern mochte. Aber nun ist es dies hier, woran ich mich immer erinnern werde.«
Sie legte sich aufs Bett, lag lang ausgestreckt da, den Kopf auf dem Kissen, die Fußgelenke übereinander. Halb hüpfte und halb humpelte ich durchs Zimmer und setzte mich auf die Bettkante neben sie.
Sie sah mich groß an. Ich legte meine Hand flach auf ihren Bauch und spürte die heftige Kontraktion von Muskeln.