Jetzt aber, wo alle fort waren, konnte ich mir nichts mehr vormachen. Wie sehr ich mich auch innerlich dagegen auflehnen, welche Wut mich auch erfüllen mochte, ich wußte doch genau, daß der Schaden, den Knochen und Bänder genommen hatten, fast so schlimm war wie der ursprüngliche. Rollway hatte mir den Knöchel wieder gebrochen. Ich fing wieder bei Null an… und nur noch viereinhalb Wochen bis zum Hennessy… aber ich würde, komme was wolle, mit >Dattelpalme< daran teilnehmen und niemandem etwas von dem kleinen Treffen heute abend erzählen, von dem ja keiner Kenntnis hatte außer Rollway, und der würde wohl kaum damit angeben.
Wenn ich mich zwei Wochen lang von Lambourn fernhielte, würde Milo nichts merken — nicht, daß es ihm allzu viel Kummer bereiten würde, wenn er’s täte. Solange er jedoch nichts wußte, konnte er auch keinem anderen was erzählen. Niemand rechnete ja auch damit, daß ich schon vor Ablauf von vier Wochen wieder an Rennen teilnahm. Wenn ich ganz einfach zwei davon in London blieb und mich um Grevilles Geschäft kümmerte, würde niemandem etwas auffallen. Und sobald ich wieder gehen konnte, würde ich mich nach Lambourn begeben und täglich reiten… mich physiotherapeutisch behandeln lassen, mir den Electrovet ausleihen… es war zu schaffen… Kinderspiel!
Fürs erste aber war da die Treppe.
Oben in Grevilles Badezimmer würde ich in einem wasserdichten Täschchen, das ich in einen der Spiel-geschränke gelegt hatte, den Umschlag finden, den mir mein Orthopäde mitgegeben und der mich seitdem auf allen meinen Fahrten begleitet hatte. In diesem Umschlag befanden sich drei kleine weiße Tabletten, kleiner als Aspirin, auf denen unter anderem meine Initialen standen: DF 1-1-8. Nur für den äußersten Notfall, hatte der Orthopäde gesagt.
An diesem Mittwochabend, so schätzte ich, war ein solcher wohl eingetreten.
Ich bewegte mich langsam die Treppe hinauf, rückwärts, im Sitzen, zog die Krücken hinter mir her. Wenn ich sie losließe, ging mir durch den Kopf, würden sie wieder bis zum Fuße der Treppe hinunterrutschen. Ich beschloß also, sie sehr gut festzuhalten.
Es war die Hölle. Ich führte mir mit Strenge vor Augen, daß es Leute gegeben hatte, die mit viel ärger gebrochenen Gliedmaßen von Bergen heruntergekrochen waren — sie hätten sich angesichts einer kleinen Treppe nicht so angestellt! Wie dem auch sei, alles mußte mal an ein Ende kommen, und so saß ich schließlich auf der obersten Stufe, die Krücken neben mir, und dachte, daß die DF 1-1-8-Pillen wohl kaum wie durch einen Zauber auf meine Zunge fliegen würden. Ich mußte sie mir schon holen.
Ich schloß die Augen und legte beide Hände um meinen bandagierten Knöchel. Ich konnte die Hitze darin spüren, und er schwoll bereits wieder an, und irgendwo hämmerte mein Puls.
Verdammt und zugenäht, dachte ich, so ein elender Mist. Mir war diese Art von Schmerz ja vertraut, aber das machte ihn auch nicht besser. Ich hoffte nur, daß Rollways Schädel brummte wie verrückt.
Ich schaffte es schließlich, mich ins Bad zu schleppen, drehte den Heißwasserhahn auf, öffnete den geräumigen Spiegelschrank, holte mein Täschchen heraus und öffnete den Reißverschluß.
Eine Tablette, und man hatte keine Schmerzen mehr, ging mir durch den Kopf. Zwei Tabletten, und man war high. Und bei drei Tabletten verlor man das Bewußtsein.
Die Pillen hatten etwas Verlockendes an sich, aber ich fürchtete, ich könnte am nächsten Morgen aufwachen und noch mal welche brauchen und mir dann wünschen, daß ich weiser gewesen wäre. Ich schluckte also nur eine mit heißem Wasser und wartete auf das Wunder.
Das Wunder, das dann tatsächlich geschah, war wirklich ganz unglaublich, hatte aber nichts mit den Pillen zu tun.
Ich starrte in den Spiegel über dem Waschbecken und erblickte mein graues Gesicht darin. Eine Besserung, dachte ich nach einer Weile, würde wohl noch ziemlich lange auf sich warten lassen. Vielleicht wirkten die verdammten Dinger ja auch überhaupt nicht.
Hab Geduld.
Nimm noch eine.
Nein, gedulde dich.
Unaufmerksam besah ich mir die Dinge, die auf der Ablage unter dem Spiegel standen. Talkumpuder. Deodorant. Rasierschaum. Rasierschaum. Der größte Teil des Inhalts der einen Dose war von Jason auf den Spiegel gespritzt worden. Es war die blaßblau-graue Dose, auf der» Unpar-fümiert «stand.
Greville hatte doch auch einen elektrischen Rasierapparat, fiel mir plötzlich ein. Der lag auf der Kommode im Schlafzimmer. Ich hatte ihn mir ja an diesem Morgen ausgeliehen. Schneller als eine Naßrasur, wenn auch nicht so lange vorhaltend.
Die verfluchte Pille wollte nicht wirken.
Ich sah sehnsuchtsvoll auf die zweite hinab.
Warte noch ein bißchen.
Denk an was anderes.
Ich nahm die zweite Dose mit Rasierschaum in die Hand, die dunkelrot und orange war und die Aufschrift» Zugelassene Parfümöle «trug. Ich schüttelte die Dose, nahm die Kappe ab und versuchte, Schaum auf den Spiegel zu sprühen.
Nichts geschah. Ich schüttelte noch einmal. Versuchte es erneut. Absolut nichts.
List und Irreführung, dachte ich. Hohle Bücher und grüne Steinkästchen mit Schlüsselloch, aber ohne Schlüssel. In Beton eingelassene Safes, Geheimfächer in Schreibtischen… Traue nie dem Augenschein! Grevilles Kopf war ein Labyrinth… und er hätte niemals parfümierten Rasierschaum benutzt.
Ich drehte die Dose so herum und anders herum, drehte an ihr — und da bewegte sich der Boden und drehte sich in meiner Hand. Ich hielt den Atem an. Konnte es eigentlich nicht glauben. Ich schraubte weiter an dem Bodenstück.
Noch so ein leeres Versteck, sagte ich mir. Zügle deine Hoffnung. Ich schraubte den Boden der Dose ganz ab, und aus einer mit Watte ausgepolsterten Höhlung fiel mir ein Lederbeutelchen in die Hand.
Na schön, dachte ich, aber Diamanten waren da nicht drin.
Unter Zuhilfenahme der Krücken brachte ich das Beutelchen ins Schlafzimmer, setzte mich auf Grevilles Bett und schüttete ein Rinnsal eher glanzlos aussehender, erbsengroßer Stückchen Kohlenstoff auf die Tagesdecke.
Ich hörte so gut wie ganz zu atmen auf. Die Zeit stand still. Ich konnte es nicht glauben. Nicht nach all dem…
Mit zitternden Fingern zählte ich sie, bildete kleine Häufchen zu je fünf Stück.
Zehn. fünfzehn. zwanzig. fünfundzwanzig.
Fünfundzwanzig — das bedeutete, daß ich jetzt fünfzig Prozent der Steine hatte. Die Hälfte von dem, was Greville gekauft hatte.
Mit dieser Hälfte war Saxony Franklin gerettet. Ich dankte dem Schicksal von ganzem Herzen, war den Tränen gefährlich nahe.
Und dann kam es wie ein Offenbarung über mich, und ich wußte auch, wo die restlichen Diamanten waren. Wo sie sein mußten. Greville hatte sie tatsächlich mit nach Ipswich genommen, wie er Pross gesagt hatte. Ich vermutete, daß er sie mitgenommen hatte, weil er dachte, er könne sie dem Mann von Maarten-Pagnier mitgeben, damit sie in Antwerpen geschliffen würden.
Ich hatte alles, was in seinem Auto gelegen hatte, untersucht und nichts gefunden — und seine Steine doch in der Hand gehabt, ohne es zu wissen.
Sie waren… sie mußten in der anderen dunkelroten und orangefarbenen Dose sein, in dieser Schein-Rasierschaumdose, die jetzt so sicher unter der Treppe im Hause von Brads Mama in Hungerford lag, als befände sie sich im Fort Knox. Sie hatte alle meine Sachen aus meinem Auto hereingeholt, um sie angesichts der Unsicherheit der Wohngegend vor Diebstahl zu schützen. In meiner Erinnerung konnte ich hören, wie stolz Brad auf sie gewesen war.