»Dass Banditen ihr Unwesen in diesem Tal treiben, ist ungewöhnlich«, sagte der junge Seigneur nachdenklich. »In der Regel überfallen sie wohlhabende Kaufleute auf der alten Salzstraße. Ins Trebbia-Tal kommen sie eigentlich nie, denn Kaufleute, auf die sie es abgesehen haben, ziehen kaum hier entlang, außerdem hätten sie meine Krieger zu fürchten.«
Bruder Faro versicherte ihm, die Wunde sei nur oberflächlich und würde bald heilen. Fidelma wartete, ob Magister Ado weitere Einzelheiten schildern oder erwähnen würde, dass man ihn bereits in Genua überfallen hatte. Doch er schien gewillt, die Sache auf sich beruhen zu lassen. »Wir hatten Glück, dass Wulfoald und seine Leute gerade in dem Augenblick dazukamen, als wir angegriffen wurden. Er hat diese beiden Bewaffneten beauftragt, uns bis zu deiner Festung zu geleiten, und hat gemeint, wir sollten für eine Nacht um deine Gastfreundschaft bitten.«
»Gastfreundschaft? Selbstverständlich.« Sein Blick ruhte auf Fidelma. »Haben wir einen Neuankömmling in unserem Tal zu begrüßen?«, fragte er.
»Das ist Schwester Fidelma aus Hibernia«, stellte Magister Ado sie vor. »Und das ist Radoald, Seigneur von Trebbia.«
»Fidelma aus Hibernia?« Der junge Mann betrachtete sie aufmerksam. »Feuerrotes Haar, helle Haut und seltsam grüne Augen hast du, all das habe ich auch bei anderen bemerkt, die aus Hibernia kamen. Aus deiner Heimat haben sich viele der Abtei hier angeschlossen. Gedenkst du, bei uns in unserem kleinen Tal zu bleiben?«
»Ich komme nur zu Besuch«, antwortete ihm Fidelma.
»Fidelma ist eine Prinzessin in Hibernia«, tat Schwester Gisa eilfertig kund. »Und nicht nur das, sie ist eine berühmte Persönlichkeit.«
Der junge Seigneur wandte sich Schwester Gisa zu und fragte lächelnd: »Eine Prinzessin? Und berühmt außerdem? Berühmt … weswegen?«
»Schwester Gisa übertreibt«, warf Fidelma ein.
»Nein, das tue ich gar nicht. Schwester Fidelma ist in ihrem Heimatland Anwältin und ist erst vor kurzem vom Heiligen Vater und seinem nomenclator hoch gelobt worden. Sie hat einen geheimnisvollen Mord an einem fremdländischen Erzbischof aufgeklärt, der sich im Lateranpalast ereignete.«
Radoald hob anerkennend die Augenbrauen und richtete seine nächste Frage an Fidelma. »Ist dem so? Ist dir das tatsächlich gelungen?«
Fidelma zuckte mit den Achseln, ihr war es peinlich, von der jungen Schwester so gerühmt zu werden. »Dass ich in der Angelegenheit nützlich sein konnte, will ich gern gestehen.«
»Siehe da, und so bescheiden.« Der junge Mann tauschte bedeutungsvolle Blicke mit Schwester Gisa, der sehr viel daran lag, den Seigneur von Trebbia wissen zu lassen, wer der neue Gast war. Fidelma glaubte zu spüren, dass es zwischen den beiden ein geheimes Einverständnis gab. Vielleicht war sie aber auch zu empfindsam. Wo immer sie konnte, vermied sie es, über ihre bisherigen Erfolge als dálaigh, Anwältin bei den Gerichten ihres Landes, oder ihren Rang als Königstochter zu sprechen. Sie hatte ihre Ausbildung mit dem Grad eines anruth abgeschlossen, der zweithöchsten Auszeichnung, die die Hohen Schulen verleihen konnten. Gutgelaunt fuhr der junge Seigneur fort: »Nur haben wir hier keine geheimnisvollen Morde, um deren Aufklärung ich dich bitten müsste. Doch gestatte mir, eine Prinzessin aus Hibernia in meinem bescheidenen Tal willkommen zu heißen.«
»Es ist mir ein Vergnügen, hier sein zu dürfen«, erwiderte Fidelma, wie es die Sitte erforderte.
Radoald wandte sich allen zu und breitete die Arme aus. »Seid mir willkommen, meine Freunde, mein Dach soll heute Nacht auch euer Dach sein.«
Seine Begleiter waren bereits abgestiegen und hatten ihre Pferde zur Tränke an den Fluss geführt. »Wir waren auf der Pirsch, um den Braten für unser Festgelage heute Abend zu erjagen. Ein prächtiger Hirsch ist unsere Beute. Bevor wir nach Hause zurückkehren, wollten wir Abkühlung am Fluss suchen. Zieht jetzt mit uns, betrachtet meine Festung für diese Nacht als euer Heim.«
KAPITEL 3
»Erzähl uns von deiner Reise nach Tolosa, Magister Ado«, forderte ihn Radoald auf, nachdem er seinen Durst aus einem Schlauch aus Ziegenleder gestillt hatte, den ihm einer seiner Krieger im Fluss mit Wasser gefüllt hatte.
Fidelma, die neben ihm stand, sah Argwohn in den Augen des alten Mannes aufblitzen. »Woher weißt du, dass ich in Tolosa war?«, fragte er entgegen seiner sonstigen Art auffallend scharf.
Radoald störte sich nicht an seinem Ton. »Bei den wenigen Menschen in unserem Tal machen Neuigkeiten rasch die Runde.«
Magister Ado zog die Stirn in Falten. »Dann ist dir gewiss auch bekannt, dass ich im Kloster des heiligen Märtyrers Saturnin war, um nach einem Manuskript Ausschau zu halten. Es war eine ereignislose Reise, doch Deo gratias eine kurze.«
»Ja, ich habe mich schon über deinen kurzen Aufenthalt dort gewundert. Ein langer Weg, um sich so rasch wieder auf den Heimweg zu machen. Du kannst kaum länger als ein paar Tage fort gewesen sein.«
»Du bist gut informiert, Seigneur Radoald.«
»Man tut, was man kann, besonders in dieser unruhigen Zeit. Ist dir unterwegs etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
Fidelma verfolgte das Gespräch mit spitzen Ohren, war aber bemüht, gleichgültig zu wirken.
»Ungewöhnliches?«
»Es gehen Gerüchte um, dass die Franken etwas gegen uns im Schilde führen. Auch hört man, dass ihre Heeresmacht, die zu Perctarit hält, in unser Land einzurücken gedenkt.«
»Mir ist nichts dergleichen aufgefallen.«
»Dabei heißt es, Tolosa sei eine heimgesuchte Stadt, leide unter der Pest, seine Bewohner würden fluchtartig den Ort verlassen, und selbst die große Basilika drohe zu verfallen.«
»Davon kann keine Rede sein. Ich habe mich mehrere Tage dort aufgehalten und konnte sogar des Buches, um das es mir ging, habhaft werden, Das Leben des heiligen Märtyrers Saturnin, das ich nun unserer ehrwürdigen Bibliothek in Bobium überbringe.«
»Das nenne ich eine gute Nachricht.« Radoald blickte in die Runde und vergewisserte sich, ob seine Leute die Pferde getränkt hatten, tat so, als hätte er die Fragen mehr beiläufig gestellt. Fidelma jedoch hatte den Eindruck, dass es mit seinen Erkundungen eine besondere Bewandtnis hatte.
»Wer ist Perctarit?«, fragte sie deshalb.
»Er war einst König der Langobarden, ein grausamer und despotischer Herrscher, der schließlich gestürzt wurde und Zuflucht im Land der Franken fand.« Radoald hatte sich zu ihr umgedreht und sprach mit ernster Stimme, kämpfte mit aufwallendem Zorn, wirkte aber bald wieder entspannt. »Ich denke, wir sollten aufbrechen.«
»Ist deine Festung weit von hier?«, fragte sie.
»Wir dürften sie vor Sonnenuntergang erreichen.«
»Und Bobium? Liegt das in der Nähe?«
»Etwa einen halben Tagesritt entfernt, viel länger dürfte es nicht dauern. Bobium ist bei uns in den Bergen hier ein Pfeiler des wahren Glaubens. Ich kann mir gut vorstellen, dass dich viele Fragen über dieses Land bewegen, Fidelma von Hibernia, aber lass uns erst weiterziehen. Auf meiner Burg können wir die Früchte unserer Jagd genießen, uns an unserem Wein delektieren und unser Gespräch fortführen. Je früher wir dort sind, desto eher kann sich auch mein Arzt um Bruder Faro kümmern, wenngleich ich glaube, die kleine Gisa ist fürsorglich um ihn bedacht.«
Fidelma folgte seinem Blick. Schwester Gisa saß neben Bruder Faro, beide im Gespräch vertieft. So, wie er von ihr sprach, schien er Gisa gut zu kennen. Lag es daran, dass in diesem kleinen Tal keiner dem anderen fremd war?
Der junge Seigneur von Trebbia klatschte in die Hände und rief zum Aufbruch. Nicht lange, und jedermann war aufgesessen, und der Trupp setzte sich in Bewegung. Radoald forderte Fidelma auf, neben ihm zu reiten. Sie begriff rasch, dass ihm daran lag, ihr Fragen stellen zu können, ohne weitere Mithörer zu haben.