»Kennst du Magister Ado schon lange?«, wollte er als Erstes wissen.
»Seit unserer gemeinsamen Reise, also kaum ein paar Tage, von Kennen kann da keine Rede sein. Wir sind uns in Genua begegnet.«
Sie spürte, dass der junge Lord sie kurz anblickte. »Du hattest aber schon vorher von ihm gehört, oder?«
»Ich bin hier fremd«, erwiderte sie gleichmütig. »Es ist, wie Schwester Gisa gesagt hat, ich war auf dem Heimweg von Rom, als wir Schiffbruch erlitten. Ich verbrachte notgedrungen ein paar Tage in Genua auf der Suche nach einer anderen Schiffspassage, und da lernte ich zufällig Magister Ado kennen.« Sie unterließ es, die näheren Umstände ihrer Begegnung zu nennen. »Er erzählte mir von der Abtei Bobium und erwähnte, dass Bruder Ruadán ein Mitglied der dortigen Gemeinschaft sei. Bruder Ruadán war einst mein Lehrer und Mentor bei uns zu Hause. Und da ich ihn gern ein letztes Mal sehen wollte, nahm ich das Angebot an, Magister Ado und seine Gefährten nach Bobium zu begleiten.«
»Bruder Ruadán?« Radoald horchte auf. »Du warst eine Schülerin von ihm?«
»Ja. Ich war sehr jung damals und nahm dann ein Studium im Rechtswesen auf.«
»Bruder Ruadán hat sich sehr unverblümt gegen einige Bischöfe im Osten unseres Tals geäußert.«
»In welcher Hinsicht?«
»Er kritisiert ihre Glaubensauffassung, dass sie das lasterhafte Leben der Adligen unterstützen, ihr Trinken, ihren Umgang mit Frauen … ihre ganze Lebensweise hat er angeprangert, und das wird ihm keine Freunde einbringen.«
»Vielleicht glaubt er ohne diese Art Freunde auskommen zu können«, meinte Fidelma trocken.
»Hat man dir gesagt, dass Bruder Ruadán überfallen und grob zusammengeschlagen wurde?«
»Ja, genau deswegen habe ich mich entschieden, Genua zu verlassen und mit nach Bobium zu reiten. Weißt du Neueres über sein Ergehen?«
»Er ist noch am Leben, aber sein Zustand ist äußerst ernst.«
»Ist dir Näheres bekannt, wie er in diese Situation geraten ist?«
»Soviel ich weiß, reiste er immer nach Placentia, einer Stadt nördlich von hier, und predigte dort in der Antoninus-Basilika. Ich fürchte, Bruder Ruadán hat mit seinen Äußerungen Unruhen geschürt. Er hat den Bischof von Placentia, Bischof Britmund, einen Esel genannt.«
Fidelma zog eine Augenbraue hoch. »Einen Esel?«
»Er erklärte, ein des Lesens und Schreibens unkundiger Bischof wäre nur ein Esel mit einer Mitra. Einen Geistlichen, so sagte er, dürfe man nicht um seiner selbst willen bewundern, er müsse über Tugend und Wissen verfügen.«
Fidelma lachte. »Der arme Ruadán. Er hat lediglich eine alte Spruchweisheit von uns verkündet. Der Gedanke birgt nichts Umstürzlerisches.«
Radoald brummte entrüstet. »Seine Ansichten haben ihm Ärger eingebracht. Einen Bischof von Placentia als ungebildet zu beschimpfen und einen Esel zu nennen, heißt, mit dem Tod zu spielen. Wir haben zwischen den Bruderschaften ohnehin genügend Spannungen hier.«
»Ich habe von den Streitigkeiten um die Auslegung der Glaubenslehren gehört, die einen halten sich an das Glaubensbekenntnis von Nicäa und die anderen heißen die Ansichten des Arius gut.«
»Lass dich warnen, Fidelma von Hibernia. Bruder Ruadán ist zwar aus Placentia zurückgekehrt, hat es aber fast mit dem Leben gebüßt. Betrachte Bobium als eine Insel, die von mächtigen Adligen umringt ist, die die Lehren des Arius verteidigen. Es ist derzeit höchst unvernünftig, seine Ansichten lauthals kundzutun. Jedermann weiß, die Tinte eines Gelehrten ist langlebiger als das Blut eines Märtyrers.«
Fidelma versuchte die Worte des jungen Mannes zu verstehen. »Ich weiß deinen Rat an eine Fremde aus einem fremden Land zu schätzen, Radoald. Doch gestatte mir die Frage, bist du als Seigneur über dieses Tal einer der Adligen, von denen du eben gesprochen hast?«
Radoald lachte und schüttelte den Kopf. »So mächtig bin ich nun wieder nicht, Fidelma von Hibernia. Natürlich bin ich bemüht, dieses Tal zu schützen – und Bobium gehört dazu. Es ist ein kleines Tal mit nur wenigen Bewohnern. Der Einfluss des Klosters von Bobium ist gewaltig, und wir leben in Eintracht miteinander. Jenseits des Tales sieht es anders aus. Du kennst doch gewiss eine der hier geltenden Lebensweisheiten – cuius regio, eius religio?«
Fidelma lächelte und neigte bestätigend den Kopf. Die Übersetzung barg keine Schwierigkeiten – wer das Land regiert, bestimmt die Religion der Einwohner.
»Ich weise noch einmal darauf hin, außerhalb des geschützten Tals ist Umsicht geboten. Bruder Ruadán hätte sich diplomatischer verhalten müssen. Ich habe ohnehin von den wenigen Leuten aus Hibernia, denen ich begegnet bin, den Eindruck gewonnen, dass ihr Menschen von Rang und Würde nicht mit der gehörigen Ehrfurcht gegenübertretet, wie es Langobarden gewohnt sind.«
»Bei uns heißt es ›Niemand ist etwas Besseres als ich, und auch ich bin nichts Besseres als jemand anders‹«, entgegnete Fidelma. »Mit anderen Worten: Einem jeden gebührt der gleiche Respekt.«
Radoald grinste. »Einem jeden gebührt der Respekt, der seiner Stellung im irdischen Leben entspricht. Schließlich weist der Schöpfer jedem seinen Platz zu, und es käme einer Gotteslästerung gleich, wäre man mit seinem Los unzufrieden.«
»Das ist eine merkwürdige Philosophie«, fand Fidelma.
»Nicht für uns«, entgegnete Radoald. »Überlege doch mal, was für ein Chaos es gäbe, wenn es anders wäre. Zum Beispiel könnte Wulfoald, der Hauptmann meiner Garde, eines Tages zu der Auffassung gelangen, er wäre mir ebenbürtig. Mit seinem Los unzufrieden, würde er dann versuchen, mich zu stürzen und meinen Platz einzunehmen. Ich bin aber dank meiner Geburt dazu auserkoren, über die Schwachen zu regieren und sie zu führen, wenn sie meine Hilfe brauchen.«
»In meinem Land sagt man, das Volk ist stärker als sein Herrscher, denn es ist das Volk, das seinen Anführer bestimmt und nicht umgekehrt.«
»Wie kann man dem Volk gestatten, seinen Herrscher zu wählen?« Der junge Mann konnte sich nicht genug wundern. »Es ist der Schöpfer, der den Herrscher erwählt, ihn mit der Macht versieht zu regieren.«
»Bei uns wird der Fähigste aus dem Clan, der Intelligenteste und Stärkste von seinem Sippenverband und seinem Volk zum Herrscher gewählt. Ich weiß, bei euch ist es immer nur der Erstgeborene, egal ob er ein Dummkopf oder großer Philosoph ist. Wie kannst du da sagen, es wäre der Schöpfer, der ihn auserwählt hat?«
Radoald lachte verschmitzt. »Wenn sich der Herrscher als ein Dummkopf erweist, wäre es mit dem Herrschen rasch vorbei.«
»Ihr würdet ihn beiseiteschaffen?«
»Selbstverständlich.«
»Und das geschieht oft mit Gewalt, entweder seitens der eigenen Familie oder seitens des Volkes?«
Radoald erkannte den Punkt, auf den sie hinauswollte, und zuckte nur mit den Achseln, was sie als Bestätigung verstand.
»Wäre es nicht besser, ihn auf die Weise zu wählen, wie wir es tun? Warum sollte man erst der Natur – ich meine der natürlichen Erbfolge – ihren Lauf lassen und dann die Natur korrigieren?«
»Wenn man dem Volk die Wahl lässt … Wenn das Volk seinen Herrscher wählen darf, denkt es doch, es darf in allen Dingen wählen, was es will.«
»Und warum sollte es das nicht tun dürfen? Schließlich leben wir alle unter einem Dach und sind auf einander angewiesen.«
Radoald brauchte einen Moment, um das zu verinnerlichen. Dann lachte er kurz auf.
»Ich glaube nicht, dass wir in dieser Frage zu einer gemeinsamen Auffassung kommen, Fidelma von Hibernia. Doch zumindest begreife ich langsam, wieso eure Leute in meinem Land in ihrer Haltung zu den Oberen als starrköpfig und respektlos gelten. Sei aber vorsichtig, was du sagst und zu wem du es sagst, wir leben in schwierigen Zeiten, und es kostet mich große Anstrengung, zwischen unserem Tal und seinen Nachbarn Frieden zu bewahren.«