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»Hattest du nicht gesagt, er wäre Perctarit auf den Thron gefolgt?«

»Dein Gedächtnis ist bemerkenswert. Perctarit war gemeinsam mit seinem Bruder Godepert König. Aber die beiden Brüder bekriegten einander. Einer war genauso schlimm wie der andere. Damals war Grimoald Herzog von Benevento. Er ermordete Godepert und trieb schließlich Perctarit ins Exil. Grimoald feiert Michael als den Beschützer unserer Krieger. Wir benötigen einen solchen Schutz, denn wir haben viele Feinde. Gegenwärtig zum Beispiel kämpft Grimoald gegen die Byzantiner im Süden. Während seiner Abwesenheit ist Lupus der Wolf, Herzog von Friuli, unser Regent. Friuli ist eine Stadt weit im Osten.«

»Das klingt, als durchlebtet ihr unruhige Zeiten.«

»Unser Volk kennt offenbar keine ruhigen Zeiten«, meinte er grimmig. »Vor Jahrhunderten wurden wir aus unserem angestammten Land weit im Norden vertrieben, und jedes Mal, wenn wir versuchten, sesshaft zu werden, trieben uns die, die nach uns kamen, weiter nach Süden und Westen. Wir waren ständig gezwungen, uns neue Gebiete, neue Heimstätten mit dem Schwert zu erkämpfen.«

»Und dennoch befehdet ihr euch untereinander wegen des Anspruchs auf den Thron.« Im Grunde genommen wollte sie ihre Feststellung als Frage verstanden wissen.

»Stärke ist das A und O eines Herrschers.«

»Habt ihr kein Gesetz, das die Thronfolge regelt? Gesetze, die den Richtern die Möglichkeit geben, einen ungerechten Herrscher abzusetzen?«

Radoald sah sie überrascht an und schüttelte dann amüsiert den Kopf.

»Du willst mir doch nicht im Ernst erzählen, dass ihr solche Gesetze habt?«

»Ein König hat sich dem Gesetz ebenso unterzuordnen wie ein Kuhhirt«, eröffnete ihm Fidelma mit großer Selbstverständlichkeit.

»Bei uns gilt: Der Gesetzgeber ist der König. Ein jeder hat sich seinem Gesetz unterzuordnen.«

Dann machte Radoald mit Fidelma einen Rundgang durch seine Festung, und sie nahm erstaunt die Fülle an Wandteppichen und Gemälden zur Kenntnis, Schätze, die, wie sie erfuhr, aus Byzanz stammten. Es gab Statuetten aus dem alten Rom und viele andere Ziergegenstände. Sie gewann den Eindruck, dass der junge Mann es darauf angelegt hatte, sie zu beeindrucken und ihr zu beweisen, dass er ein kultivierter und kunstverständiger Mann war. Nach einer Weile bekannte er: »Als wir, die Langobarden, vor etwa hundert Jahren in dieses Land kamen, waren wir Heiden, hatten noch nichts von Christus und seiner Lehre gehört. Für uns gab es nur eins – erobern und herrschen mit dem Schwert. Dankenswerterweise haben sich die Zeiten geändert.«

Ihre Unterhaltung wurde von einem hoch aufgeschossenen Mann von angenehmem Äußeren unterbrochen, der auf sie zukam. Schwer zu sagen, wie alt er war, denn trotz seines schneeweißen Haares wirkte er jung. Die Augen waren so dunkel, dass sich kaum Pupillen erkennen ließen, die Lippen dünn und auffallend rot, die Nase hervorstehend und schmal. Er war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, die Ärmel seines Gewands waren so weit und lang, dass die Hände darin verschwanden. Keinerlei Schmuck erhellte das düstere Schwarz.

»Suidur, das ist Schwester Fidelma von Hibernia, nicht nur Nonne, sondern eine Prinzessin ihres Landes«, stellte Radoald sie vor. »Und das ist Suidur, mein Arzt.«

Die dunklen Augen ruhten regungslos auf Fidelma. Dann führte der Arzt die linke Hand zum Herzen und verbeugte sich kurz.

»Hibernia? Willkommen in unserem Tal, edle Dame. Gisa hat mir von eurer Begegnung und eurer gemeinsamen Reise hierher berichtet.« Er sprach mit trockener, emotionsloser Stimme. »Du wärest einst Schülerin vom alten Bruder Ruadán in Bobium gewesen, erzählte sie.«

»Ja, das stimmt. Darf ich davon ausgehen, dass es Bruder Faro besser geht?«

»Faro geht es gut«, bestätigte der Arzt. »Zum Glück war die Wunde nicht verschmutzt, und es droht keine Entzündung. Gisa hat ihn bestens versorgt. Ich habe die Wunde mit Kräutern behandelt und einen Verband angelegt. Natürlich hat er Wundschmerz, das ist aber auch alles. Von meiner Warte aus kann er die Reise nach Bobium morgen fortsetzen und dürfte sich rasch erholen. Natürlich darf er sich nicht überanstrengen.«

»Dann ist die Sache ja noch mal gut ausgegangen«, bemerkte Radoald befriedigt.

Der Arzt schaute sich suchend in der Halle um. »Ich dachte, Magister Ado ist auch hier, ich sehe ihn aber nirgends.«

»Magister Ado hat darum gebeten, ihn zu entschuldigen, die Reise hat ihn erschöpft«, erklärte Radoald. »Er möchte das Abendessen in seiner Kammer einnehmen.«

Suidur der Weise richtete die dunklen Augen wieder auf Fidelma. »Kennst du ihn schon lange?«

Sie war überrascht, von Suidur die gleiche Frage gestellt zu bekommen wie zuvor von Radoald.

»Ich bin ihm in Genua begegnet. Er erzählte mir von Bobium und erwähnte einen Bruder Ruadán dort. Ich konnte nicht aus eurem Land abreisen, ohne meinen alten Mentor gesehen zu haben, umso mehr, da ich erfuhr, dass es ihm nicht gut geht.«

»Du hast vor eurer Begegnung in Genua Magister Ado nicht gekannt?« Suidur starrte sie nachdenklich an.

Sie wollte gerade antworten, als der junge Adelsmann ihr zuvorkam. »Augenscheinlich hatte sie weder vom Magister noch von Bobium etwas gehört, erfuhr erst von ihnen durch die zufällige Begegnung im Seehafen. Sie ist auf der Rückreise von Rom nach Hibernia. Du musst schon entschuldigen, edle Dame, aber in unserer kleinen Gemeinschaft sind wir bei Besuchern immer sehr hellhörig.« Ein Horn wurde geblasen, und Radoald schien erleichtert. »Das Mahl ist bereitet. Kommt, lasst uns speisen.«

Der Einzige, der beim Essen fehlte, war Magister Ado. Schwester Gisa und Bruder Faro erschienen gemeinsam. Fidelma wurde der Platz zwischen Radoald und Suidur gewiesen. Im Gespräch ging es sowohl um Hibernia als auch um das Trebbia-Tal und die Abtei von Bobium. Radoald war darauf bedacht, bei harmlosen Themen zu bleiben, wie die unterschiedlichen Sitten und Gebräuche beider Länder, Speisen und Getränke und dergleichen. Fidelma war nicht böse, als sie sich endlich zur Nacht zurückziehen konnte. Radoald wies einen seiner Diener an, sie zu ihrer Gästekammer zu geleiten.

Im Lichte einer Öllampe führte er sie über den mit Steinen gepflasterten Haupthof. Einige Menschen waren dort noch beschäftigt, man nahm sie mit einem Kopfnicken oder den üblichen Begrüßungsfloskeln zur Kenntnis. Sie gelangten in ein gedrungenes, mehrstöckiges Gebäude und stiegen die Treppen hoch. Das Zimmer, das man ihr zugedacht hatte, war klein und hatte ein Fenster, das auf einen Balkon hinausging, von dem man den vom zunehmenden Mond erleuchteten Innenhof überblicken konnte. Der Raum war mit einem Bett und einem Tisch ausgestattet, auf dem in Kerzenhaltern Talglichte standen, eines war bereits angezündet. In einer Ecke stand ein weiterer Tisch mit einer Schüssel Wasser zum Waschen, daneben lag ein Leinentuch. Auch für einen Krug mit Trinkwasser und einen Becher war gesorgt. Ihr Begleiter verließ sie, Fidelma gähnte vor Müdigkeit und trat zum Fenster. Der Mond hüllte das Trebbia-Tal in ein unheimliches Zwielicht, und in den Bäumen und Sträuchern raschelte ein frischer Wind. Nahezu erleichtert ließ sich Fidelma ins Bett fallen und schloss die Augen.

Sie lag wach. Trotz aller Erschöpfung fand sie keine Ruhe. Die Ereignisse der vergangenen Tage gingen ihr durch den Kopf, und sie fragte sich, ob ihr Entschluss, Magister Ado und seine Gefährten nach Bobium zu begleiten, eine richtige Entscheidung gewesen war. Vielleicht hätte sie besser im Hafen von Genua bleiben und auf ein Schiff zur Fortsetzung der Heimfahrt warten sollen, anstatt sich auf die Reise in ein fremdes Land zu begeben.

Schon in Rom hatte sie sich nach Cashel zurückgesehnt, nach den saftigen grünen Ebenen, den Bergen, den dichten grünen Wäldern ihrer Heimat. Jetzt aber spürte sie noch ein anderes Verlangen. Mit einem Gefühl der Traurigkeit hatte sie sich von dem angelsächsischen Mönch Eadulf verabschiedet, der ihr Gefährte und Helfer beim Lösen der geheimnisvollen Vorgänge in der Abtei Hilda gewesen war und später auch im Lateranpalast in Rom. Sie wünschte, er wäre jetzt bei ihr. Sie brauchte jemand, dem sie vertrauen konnte, mit dem sie ihre Gedanken über das, was sie erlebt hatte, teilen konnte.