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»Du wirst den armen Bruder Ruadán in einem beklagenswerten Zustand finden«, sagte er. »Wie du weißt, kann zunehmendes Alter unschöne Folgen haben, doch diese letzten Tage haben ihn über die Maßen geschwächt.«

»Hat er schlimme Verletzungen?«

Bruder Hnikar presste die Lippen zusammen. »Die sichtbaren Verletzungen sind nicht so schwerwiegend; bei seinem Alter war es mehr der Schock, derartiger Gewalt ausgeliefert zu sein. Stichwunden, Beulen und Brüche weiß ich zu heilen, aber wenn die Verwundung tief in Geist und Seele dringt …« Er verzog das Gesicht. »Lass Vorsicht walten, wenn du mit ihm sprichst. Er ist wirr im Kopf und bildet sich die unmöglichsten Dinge ein. Komm, ich führe dich zu ihm.«

Der Raum, in dem Bruder Ruadán lag, war klein, hatte aber eine weite Fensteröffnung, die so in die Mauer eingefügt war, dass viel Licht hereinfiel, wenn sich die Sonne über den Höhenzügen im Westen neigte. Außer der Bettstatt war kaum etwas anderes in der Zelle. Der betagte Mönch ruhte auf einem Strohsack und war mit einer dünnen Wolldecke zugedeckt. Ein einfaches Holzkreuz hing an einer Wand. Ein Tischchen mit einem Wasserkrug und einem Becher sowie eine hölzerne Truhe für persönliche Dinge und Kleidungsstücke bildeten das ganze Mobiliar.

Bruder Hnikar ließ sie eintreten und flüsterte ihr zu: »Denk dran, überanstrenge ihn nicht. Er wird von Tag zu Tag schwächer.«

Ohne ihm zu antworten, ging Fidelma auf das Bett zu. Bruder Ruadán lag auf dem Rücken, als ruhte er, hatte die Hände vor sich gefaltet, die Augen geschlossen; der Atem ging leicht rasselnd.

»Bruder Ruadán, kannst du mich hören?«, sprach Fidelma ihn leise in ihrer Sprache an.

Die regelmäßigen Atemzüge kamen zögerlicher, die Augenlider zuckten und öffneten sich. Zunächst konnten sich die Augen nicht auf einen Fleck konzentrieren.

»Bruder Ruadán, hörst du mich?«, wiederholte Fidelma.

»Wer … wer redet da?«, keuchte der Alte in seiner Muttersprache.

»Ich bin es, Fidelma von Cashel.«

Ein schwaches Lächeln trat auf die Lippen des Greises.

»Fidelma von Cashel? Die ist meilenweit weg von hier.«

Fidelma neigte sich dichter über ihn. »Versuch genau hinzusehen, Bruder Ruadán. Ich bin jetzt hier, bei dir.«

Seine Augen wanderten hin und her, bevor er sie in seinem Blickfeld hatte.

»Erinnere dich an die Zeit, die wir auf Inis Celtra miteinander verbracht haben. Du hast einmal zu mir gesagt, ich sei deine schlimmste Schülerin, weil ich immer so viele Fragen zum Neuen Glauben hatte. Du hast mich gelehrt, ich soll einfach glauben und nicht alles in Frage stellen.«

Über das Gesicht des Alten glitt ein unsicheres Erkennen. »Ich habe einmal eine Prinzessin von Cashel gekannt«, murmelte er, »die hat sogar die Allmacht Gottes angezweifelt.«

»Ich habe damals gesagt, wenn Gott allmächtig ist und Adam erschaffen hat, denn hätte Er doch wissen müssen, dass Adam ungehorsam sein würde.«

»Gott ist allmächtig, aber Er hat dem Menschen einen freien Willen gegeben«, antwortete der Mönch mit der in seinem Gedächtnis verankerten Formel.

»Wenn aber Gott allmächtig war, wie konnte es dann sein, dass Adams Wille stärker war als der seines Schöpfers?«, trieb Fidelma die Fragen weiter.

»Gott erlaubte Adam, seine freie Wahl zu treffen.«

»Nach unserem Gesetz gilt eine Person, die von einem vorsätzlichen Verbrechen weiß und es nicht verhindert, obwohl sie es könnte, als mitschuldig und wird als Mittäter verurteilt.«

Es sah beinahe aus, als würde er zustimmend nicken. er sperrte die wässrigen Augen auf und griff nach Fidelmas Hand.

»Fidelma von Cashel … So hat sie mit mir gestritten, als sie ein heranwachsendes Mädchen war. Dann ist sie fortgezogen, um unter Brehon Morann Rechtskunde zu studieren.«

»Jetzt bin ich hier … hier in Bobium, du, mein alter Lehrer. Ich war auf der Heimreise von Rom nach Cashel und habe zufällig erfahren, dass du nun hier bist. Wie konnte ich weiterreisen, ohne dich aufgesucht zu haben?«

»Fidelma von Cashel?« Der Alte gab einen langen Seufzer von sich und schien noch tiefer in sein Kissen zu sinken. »Bist du es wirklich?«

»Ja, ich bin es, bin Fidelma von Cashel.«

»Verzeih, ich bin alt geworden, und meine Augen werden schwächer. Ich glaube nicht, dass ich noch lange auf Erden wandle.«

»Unsinn«, widersprach ihm Fidelma mit Verve. »Du wirst uns noch alle überleben.«

Er lächelte gequält. »Du warst immer so voller Optimismus, Fidelma von Cashel. Ich hätte gedacht, Brehon Morann hätte dich gelehrt, nicht zu optimistisch zu sein. Du bist in Rom gewesen?«

»Ja, ich war dort.«

Plötzlich sah der Alte ganz verstört aus. Seine schwache Hand umklammerte Fidelmas Arm, er mühte sich, sich im Bett aufzurichten.

»Bleib ganz ruhig, Ruadán«, redete Fidelma sanft auf ihn ein.

»Sei auf der Hut, Fidelma von Cashel. Was aus seinem nassen Grab geholt wurde, muss dorthin zurück. Ein Fluch liegt darauf!«

Der Kranke schaute sie seltsam durchdringend an, als quälte ihn eine furchtbare Angst.

»Ich verstehe dich nicht, Bruder Ruadán, reg dich nicht auf«, suchte sie ihn zu beschwichtigen.

Mit beiden Händen griff er ihre Arme, packte sie fest und zog sich daran hoch. »Übles geht hier vor, Fidelma von Cashel. Übles! Verlass diesen Ort … verlass ihn sofort, du bist hier nicht sicher. Geh fort …«

Keuchend atmete er aus und fiel erschöpft zurück.

Verwirrt blickte Fidelma zu ihm hinunter, wusste nicht, was sie davon halten sollte. Dann wurde sie gewahr, dass Bruder Hnikar an der Tür stand. Er kam rasch zum Bett und legte eine Hand auf Bruder Ruadáns Stirn.

»Seine Körperkräfte lassen nach, habe ich dir ja erklärt. Er hat sich übernommen und sinkt nun wieder in Schlaf. Verlass ihn jetzt. Er braucht so viel Ruhe wie nur möglich.«

Fidelma zögerte, schaute noch einmal lange auf den Geistlichen und trennte sich widerstrebend von ihm. Der Apotheker drängte sie zur Tür.

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, versicherte er ihr. »Er muss jetzt einfach ruhen. Wenn er überreizt ist, bekommt er Halluzinationen. Ich kümmere mich um ihn. Miss dem, was er gesagt hat, keine Bedeutung bei. Sein Verstand ist durcheinander.«

Und schon befand sie sich auf dem Gang, an dem die Zellen lagen. Die Tür wurde fest hinter ihr zugezogen. Doch hörte sie auch von draußen Bruder Ruadán mit schwacher Stimme mehrfach rufen: »Sag ihr, sie soll abreisen … soll die Abtei sogleich verlassen! Viel Böses geht hier um!«

KAPITEL 5

Bruder Wulfila wartete im Gang, um Fidelma zurück zur Stube des Abts zu führen.

»Ich habe ihn rufen hören«, erklärte er ungehalten. »Sein Geist irrt in der Wahnvorstellung, seine Widersacher könnten ihm immer noch etwas anhaben, selbst hier in der Abtei. Wir tun alles für ihn, was in unserer Macht steht. Bruder Ruadán genießt hier große Anerkennung. Leider ist sein Zustand besorgniserregend.«

»Ja«, erwiderte Fidelma einsilbig.

»Hat er dich erkannt?«

»Ja, das war aber auch fast alles.«

Der Verwalter schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich jedoch anders und ging ihr voran.

Abt Servillius und Magister Ado waren immer noch im Gespräch vertieft. Ein dritter Mann hatte sich hinzugesellt. Er war älter als die beiden anderen, hatte silbergraues Haar, wirkte schlank, aber nicht hager, die Haut von frischer Bräune, alles in allem eine gutaussehende Erscheinung. Er hielt sich gerade und aufrecht, wie es nur Jüngere tun. Erst bei genauerem Hinsehen verrieten seine Züge, dass er jenseits der siebzig war. Als Fidelma den Raum betrat, blickten alle drei auf.

»Ah, Schwester Fidelma«, begrüßte sie der Abt. »Ich darf dir den Ehrwürdigen Ionas vorstellen, unseren größten Gelehrten.«