Es stellte sich heraus, dass das Schiff nicht sobald wieder seetüchtig gemacht werden konnte. Man beteuerte Fidelma, Genua wäre ein wichtiger Handelshafen, und sie würde keine Schwierigkeiten haben, eine andere Überfahrt nach Massilia zu finden. Doch derlei Vertröstungen erwiesen sich als falsch. Im Hafen lagen nur wenige Schiffe, und keins von ihnen hatte Masssilia oder einen in der Nähe liegenden Ort zum Ziel. Außerdem gab es Gerüchte, dass eine fränkische Flotte Genua ansteuerte, auch war von einem möglichen Krieg die Rede, aber Fidelma nahm das nicht weiter ernst. Sie hatte sich in den Gassen um den Hafen herum umgetan und eine kleine Herberge entdeckt, die christlichen Pilgern Obdach bot. Nicht, dass sie über mangelnde Gastfreundschaft hätte klagen können, aber die Tage verstrichen nur langsam, und immer noch lief kein Schiff ein, auf dem sie ihre Reise hätte fortsetzen können.
Genua und seine Umgebung vermochten sie nicht zu fesseln. Die alte Herbergswirtin hatte ihr in einem kurzen Gespräch seine Geschichte erläutert. In den zurückliegenden Jahrzehnten hatten verschiedene Eroberer aus strategischen Gründen den Seehafen eingenommen; die damals noch herrschenden Byzantiner hatten hier mit ihren Schiffen vor Anker gelegen und von hier aus versucht, die vordringenden germanischen Stämme, die Langobarden, aufzuhalten. Letztere beherrschten jetzt das Land und hatten in diesem regen Handelszentrum Spuren ihrer Kultur hinterlassen. Alboin und seine Langobarden waren im vergangenen Jahrhundert über die gesamte italienische Halbinsel hinweggezogen und hatten sie mit Ausnahme einiger weniger Gebiete, die unmittelbar um Rom herum lagen und an ihrer Unabhängigkeit festhielten, unter ihre Herrschaft gebracht. Jetzt hatten unter dem König sechsunddreißig mächtige Herzöge das Sagen.
Im Hafengebiet hörte man die Sprachen verschiedener Herren Länder, und Fidelma lernte rasch die groben Gutturallaute der Sprache der Langobarden zu unterscheiden. Doch war sie froh, dass Latein immer noch die allgemeine Verkehrssprache war, denn so konnte sie sich wenigstens verständlich machen.
Ihr waren die historischen Fakten durch den Kopf gegangen, als der alte Mönch an ihr vorbeigeeilt war. Vermutlich hätte sie ihn aus ihrem Unterbewusstsein schon gleich gestrichen, wären ihm da nicht zwei Männer gefolgt, die mehr oder weniger ungewollt ihre Aufmerksamkeit erregten. Über die Köpfe hatten sie Kapuzen gestreift, lange dunkle Umhänge verbargen ihre Körper, und sie gingen leicht nach vorn gebeugt, als verfolgten sie ein bestimmtes Ziel; einer von ihnen hielt in der rechten Hand einen Knüppel. Der Knüppel war es, der Fidelma stutzig machte. Nur einen kurzen Moment war der Umhang durch den raschen Schritt des Mannes zurückgeschlagen, so dass sie die Waffe hatte sehen können. Beide waren sorgsam auf ihre Fußtritte bedacht, um auf den Pflastersteinen ja nicht das gleiche Geräusch wie der Mann vor ihnen zu verursachen.
Über mögliche Folgen dachte Fidelma nicht nach. Sollte es sich hier um ein Schurkenstück handeln, dann gebot ihr ihre Berufung als dálaigh – Anwältin bei Gericht in ihrem Land und von ihrer Aufgabe durchdrungen – automatisch zu handeln. Leise folgte sie den beiden Männern, die in der schmalen Gasse dem alten Mönch auf den Fersen waren. Ihnen entgegen kamen nur zwei, drei Leute, und die nahmen keinerlei Notiz von ihnen. Doch gleich darauf erreichten sie ein Stück Straße, das menschenleer war. Schon beschleunigte einer der Männer seinen Schritt, und rein instinktiv tauchte Fidelma in den Schutz einer Nische zwischen den Gebäuden, um sicherzugehen, dass sie niemand beobachtete. Als sie vorsichtig aus ihrem Versteck lugte, sah sie, dass beide Männer sich eilends dem Alten näherten. Er schien sie nicht zu bemerken. Der eine Verfolger holte bereits mit dem Knüppel zum Schlag aus.
Fidelma dachte nicht daran, Vorsicht walten zu lassen, und rannte ihnen hinterher.
»Cave! Cave!«, schrie sie laut auf Latein.
Bei ihrem Aufschrei drehte sich der Geistliche um und parierte den ihn bedrohenden Schlag des Knüppels mit einer geschickten Bewegung seines Hirtenstabes.
Im gleichen Moment drehte sich der zweite Angreifer zu Fidelma um, auch er war mit einem Knüppel bewaffnet. Er schwang ihn in der Luft und kam auf sie zu gerannt. Was dann geschah, war eine Frage von Sekunden. Noch im Lauf duckte sie sich plötzlich und blieb unbeweglich in der Hocke. Ihr Gegner vermochte nicht, sein Tempo abzubremsen, flog über ihren zusammengekauerten Körper und landete mit einem heftigen Sturz auf dem Straßenpflaster, wobei ihm der Knüppel aus der Hand glitt. Fidelma reagierte sofort und stieß, während er noch zusammengekrümmt auf der Erde lag, die Waffe ein Stück von ihm weg.
Nur wenige Male zuvor hatte sie den Kunstkniff der troidsciathagid angewandt. Einmal war das in Rom gewesen, als sie angegriffen wurde. Es war eine traditionelle Technik ihrer Landsleute, bekannt unter dem Begriff »Offensive durch Verteidigung«, überliefert aus alten Zeiten von weisen Lehrern, die es für falsch hielten, zum eigenen Schutz Waffen mit sich zu führen. In jenen gewalttätigen Tagen wurden einsam dahinziehende Missionare oft überfallen, ausgeraubt und zuweilen auch getötet. Jetzt lernten viele Missionare, die auf ihrer peregrinatio pro Christo in fremde Länder zogen, wie man sich dank dieser Technik auch ohne Waffen verteidigen konnte.
Fidelma ging auf Abwehrposition, darauf gefasst, sich ihrem Angreifer erneut stellen zu müssen. Sein Umhang war aufgeschlagen, und sie wurde auf seiner rechten Schulter eines merkwürdigen gestickten Symbols gewahr – ein flammendes Schwert, umgeben von einem Lorbeerkranz. Sie versuchte, sich das Bild einzuprägen, als von hinten jemand etwas rief. Unmittelbar darauf stürmte der erste Angreifer an ihr vorbei und die Straße hinunter. Ihr unmittelbarer Gegner rollte sich zusammen, kam auf die Füße und rannte ihm hinterher. Im Nu waren beide in einer Seitenstraße verschwunden. Fidelma war noch leicht verwirrt, als eine Stimme auf Latein sie warnte: »Lass sie laufen, Schwester. Wir sollten nichts riskieren.«
Sie drehte sich zu dem alten Mann um, der, auf seinen Stab gestützt, dastand. Er hatte eine Schürfwunde an der Stirn, die leicht blutete.
»Bist du verletzt?«, fragte sie und ging auf ihn zu.
Der Alte lächelte. »Es hätte schlimmer sein können, Schwester. Dank deines Eingreifens konnte ich den Schlag rechtzeitig abwehren. Ich hoffe, dir ist nichts geschehen. Und was ist mit dir? Ich habe den Trick früher einmal bei einem Bruder aus Hibernia gesehen. Kommst du etwa auch von dort?«
»Ja«, bestätigte sie. »Ich bin Fidelma aus Hibernia.«
»Freut mich, dich kennenzulernen, Schwester Fidelma. Ich bin Ado von Bobium.«
Sie blickte auf die silberne Krümmung des Hirtenstabes. »Abt Ado?«, fragte sie.
Er lachte kopfschüttelnd. Trotz seines fortgeschrittenen Alters sah er gut aus. Er hatte blaue Augen, das gepflegte weiße Haar reichte ihm fast auf die Schultern. Er machte den Eindruck eines intelligenten und kräftigen Mannes, und die Art und Weise, auf die er seinen Angreifer abgewehrt hatte, bewies nicht nur Stärke, sondern auch Geschick.
»Abt? Nein, selbst wenn mich manche aus Ehrfurcht vor meinem Alter und meiner Gelehrsamkeit mit Magister Ado ansprechen.« Er sah sich prüfend um. »Wir sollten hier nicht unnütz lange verweilen, unsere Freunde könnten leicht wiederkommen. Bis dort, wo ich hin will, ist es nicht mehr weit. Ich würde dir gern meine Gastfreundschaft erweisen und dir so für deinen Beistand danken, den du mir gegen die … hm … Räuber geleistet hast.«
Fidelma hatte das Gefühl, dem alten Mann hatte ein anderes Wort für die Angreifer auf der Zunge gelegen, aber sie drang nicht weiter in ihn. Eine Ablenkung von der Tatenlosigkeit, die sie eben noch bedrückt hatte, kam ihr gelegen. So wanderten sie gemeinsam auf der schmalen Straße, ihr neuer Gefährte stellte ihr einige Fragen, und sie erklärte bereitwillig, durch welche Umstände sie in Genua gelandet war.