Schließlich blieb Magister Ado vor einer Tür stehen.
»Da wären wir«, sagte er, hob seinen Stab und klopfte in bestimmten Abständen – offensichtlich ein vereinbarter Code – gegen die Tür. Sie wurde sogleich geöffnet, und ein junger Mann mit dunklem, hübschem Gesicht schaute argwöhnisch heraus. Auch er war in ein Mönchsgewand gekleidet, machte aber einen äußerst wendigen und kräftigen Eindruck, so dass man ihn eher für einen Krieger als für ein Mitglied der Bruderschaft hätte halten können. Er schaute besorgt drein, als er auf der Stirn des Alten Blutspuren bemerkte.
»Magister Ado! Bist du verletzt?«
Auch jetzt schüttelte der Mönch lächelnd den Kopf.
»Nichts Ernsthaftes. Aber ein Becher Wein täte meiner Gefährtin und mir gut, Bruder Faro.«
Neugierig blickte der junge Mann von Magister Ado zu Fidelma und zwang sich zu einem freundlichen Gesichtsausdruck.
»Entschuldigt mein Zögern. Tretet ein, kommt rasch herein.«
Er zog die Tür weit auf. Fidelma entging nicht, dass er nach ihrem Betreten des Hauses hinaus auf die Straße trat und nach beiden Richtungen Ausschau hielt, wie um sich zu vergewissern, dass sie niemand beobachtet hatte.
Magister Ado wartete, bis der junge Mann die Tür geschlossen hatte und sie durch einen stickigen Raum auf einen kleinen Innenhof führte. Ein plätschernder Brunnen brachte etwas Kühlung in die noch warme Luft. Kurz darauf erschien in einem anderen Türbogen eine junge Frau.
»Ah, Schwester Gisa«, begrüßte sie Magister Ado. »Was meine Gefährtin und ich brauchen, ist ein Becher Wein. Darf ich vorstellen? Schwester Fidelma aus Hibernia.«
Die junge Frau – den Mädchenschuhen kaum entwachsen – betrachtete ihn besorgt. »Du hast Blut auf der Stirn, Magister …«, begann sie.
»Alles in bester Ordnung. Kein Grund zur Beunruhigung.« Er wandte sich an Fidelma. »Das sind gute Freunde von mir – Schwester Gisa und Bruder Faro. Sie sind immer übertrieben besorgt um mich. Hol uns Wein, Schwester Gisa.«
Mit einem flüchtigen Kopfnicken hieß das Mädchen Fidelma willkommen, ging zu einem Seitentisch und nahm einen Krug und zwei Tonbecher zur Hand. Bruder Faros beunruhigter Gesichtsausdruck wollte nicht weichen. »Was ist passiert?«
»Versuch eines Raubüberfalls, nichts weiter. Zum Glück war Schwester Fidelma in der Nähe, ohne ihr Eingreifen hätte es schlimmer ausgehen können.«
»Glaubst du, sie haben mitbekommen, dass ihr hier seid?«
Stirnrunzelnd betrachtete der Alte den jungen Mann, machte aber gleich wieder ein entspanntes Gesicht. »Rasch, bring den Wein, mein Kind. Ich muss den Staub der Straße aus der Kehle spülen.«
Schwester Gisa schenkte Wein ein und blickte dabei Fidelma verstohlen an. Sie hatte dunkle Augen, wie Fidelma auffiel, ähnlich dunkel wie ihr Haar, soweit es die Haube erkennen ließ. Die Gesichtsfarbe war olivbraun, doch stammte die Tönung nicht von der Sonneneinwirkung wie sonst bei Südländern.
»Was hat es möglich gemacht, dass du hast eingreifen können, Schwester?«, fragte das Mädchen. Alle sprachen in einem einwandfreien Latein, keiner benutzte die landesübliche Sprache.
»Ich sah, wie zwei Männer Magister Ado hinterherschlichen«, meinte Fidelma achselzuckend, »ich rief und konnte ihn warnen. Das ist alles.«
Magister Ado schüttelte den Kopf. Er hatte immer noch ein Lächeln auf dem Gesicht, so als könnte er gar nicht anders.
»Von wegen alles. Sie hat weit mehr getan, meine Freunde. Einer der Kerle wollte über sie herfallen, und sie hat den Mann einfach zu Boden gezwungen. Ich habe den Trick bisher nur einmal gesehen, und das war bei einem der Brüder aus Hibernia.«
Bruder Faro äußerte geradezu übertriebene Dankbarkeit.
»Du hast unserem Meister das Leben gerettet. Vielen Dank, Schwester.«
»Ich war sein Lehrer«, erklärte Magister Ado. »Und bin es immer noch, sofern die Jugend auf das Alter hört.«
Das mit der Jugend war relativ zu sehen, fand Fidelma, denn sie schätzte Bruder Faro Mitte zwanzig.
»Was ich gern gewusst hätte, ist, warum sie es auf dich abgesehen hatten«, fragte Fidelma und nippte an ihrem Wein. »Meines Erachtens waren es nicht nur einfache Straßenräuber.«
»Du hast eine scharfe Beobachtungsgabe, Schwester«, meinte Magister Ado ernst, und sie glaubte in seiner Stimme so etwas wie Argwohn herauszuhören.
»Es ist meine Natur. Ich habe in meinem Land die Ausbildung zu einer Anwältin bei Gericht erfahren.«
»Schwester Fidelma?« Schwester Gisa war hellhörig geworden. »Bist du gerade erst von Rom gekommen?« Und ehe Fidelma das bestätigen konnte, erklärte die junge Schwester Magister Ado aufgeregt: »Vor einer Woche, kurz bevor wir die Abtei verließen, um zu unserem Treffpunkt hier zu kommen, kehrte ein Bruder aus Rom zurück. Er wusste von einer Schwester Fidelma zu berichten aus einem Ort Cashel in Hibernia. Sie hätte das Geheimnis um den Mord eines angelsächsischen Bischofs, der sich dort ereignet hatte, aufgeklärt. Selbst der Heilige Vater hätte sie in hohen Tönen gelobt. Bist du die besagte Fidelma von Hibernia?«, fragte sie schließlich an Fidelma gewandt.
Fidelma machte ein verdutztes Gesicht. »Ich kann es nicht leugnen. Mein Vater war Failbe Flann, König von Muman, dessen Hauptstadt Cashel in Hibernia liegt. Mein Bruder ist der gesetzliche Erbe auf das Königtum. Ich aber bin nur Rechtsanwältin, wie ich schon gesagt habe, und war im Auftrag der Bischöfe meines Landes auf einer Mission in Rom.«
Schwester Gisa klatschte vor Vergnügen fast in die Hände. »Kennst du Bruder Ruadán von Eenish Keltrah?«
Fidelma brauchte einen Moment, ehe sie begriff, dass das junge Mädchen Inis Celtra meinte, dann aber machte sie große Augen vor Verwunderung. Erinnerungen aus der Kindheit an der Schule, die Bruder Ruadán geleitet hatte, stiegen in ihr auf.
»Bruder Ruadán von Inis Celtra war mein Lehrmeister, bis ich das Alter der Wahl erreichte. Wie kommst du auf ihn?«
»Bruder Ruadán dient in unserer Abtei«, verkündete Schwester Gisa strahlend. »Als der Bruder aus Rom deinen Namen nannte, sagte er, er würde dich kennen.«
Fidelma war bemüht, ihre Überraschung zu verbergen. »Bruder Ruadán muss aber sehr alt sein. Du sagst, er lebt in einer Abtei irgendwo hier in der Nähe?«
»In der Nähe wäre übertrieben«, mischte sich Bruder Faro ein. »Hochbetagt ist er tatsächlich. Als wir vor einer Woche aus der Abtei abreisten, konnte er seine Zelle nicht verlassen und wurde von Schüttelfrost geplagt.«
»Aber wo genau ist er? In welcher Abtei?«
»In der Abtei Bobium«, erwiderte Schwester Gisa. »Er sprach von dir mit großer Zuneigung und erzählte, er habe einst die junge Tochter seines Königs unterrichtet. Er war sich ganz sicher, dass diese Schwester Fidelma, von der in Rom die Rede war, die Person gewesen sein muss, die er einst kannte.«
Magister Ado betrachtete sie aufmerksam. »Ist es wahr? Bist du eben die Person, die im Lateranpalast vom Heiligen Vater selbst so hoch gelobt wurde?«
Fidelma war es unangenehm, ein solches Aufsehen zu erregen, und sie wiederholte: »Ich bin Fidelma von Cashel. Doch wo befindet sich diese Abtei Bobium? Ich würde Bruder Ruadán gern wiedersehen.«
»Sie liegt oben in den Bergen, Schwester. Ein Dreitagesritt, und es braucht ein gutes Pferd.« Die Auskunft kam von Bruder Faro.
Auf Fidelmas Gesicht machte sich Enttäuschung breit. Drei Tage zu Pferd, außerdem würde sie in dem ihr unbekannten Gebiet einen Führer benötigen. Zeit genug würde sie zwar haben, da wenig Aussicht bestand, so bald ein Schiff nach Massilia zu bekommen, aber wie sollte sie sich Pferd und Führer beschaffen? Und bis nach Hause stand ihr noch einiges bevor.