»Und wollen auch wir nach diesem Ticinum Papia?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir werden die Nacht in einer kleinen Ortschaft verbringen, bei der die Salzstraße geradenwegs durch die Berge nach Norden abzweigt. Unser Weg hingegen führt durch ein Tal, das Tal der Trebbia heißt es, und bringt uns direkt zur Abtei Bobium.«
Fidelma hatte die Landschaft, durch die sie ritten, mit lebhaftem Interesse wahrgenommen. In mancher Hinsicht erinnerte sie sie an ihre Heimat. Die Berge waren keine hochaufragenden Felszacken, ihre Kämme zogen sich in sanften Kurven dahin und erhoben sich zu Höhen, die ihr vertraut waren. Die unteren Hänge waren mit dichten Wäldern bestanden. Sie erkannte Buche, Eberesche und Mehlbeerbaum. Auch die Farnkräuter und Adlerfarne riefen Erinnerungen wach. Mit etwas Phantasie konnte sie sich einbilden, sie wäre zu Hause. Und doch war der Gesamteindruck irgendwie anders – wahrscheinlich lag es an der fetten, rötlich-braunen Erde.
Ab und an machte sie Turmfalken und Sperber aus, die hoch oben am Himmel kreisten. Aus den dichten Waldungen hörte sie Vogelgezwitscher, mal hier, mal da, das sie aber keinem Vogel zuordnen konnte. Vielleicht spürte sie gerade dadurch, dass sie sich in der Fremde befand. Dann fiel ihre eine Eiche auf, eine Eiche war es, ja, doch die Blätter waren anders geformt.
Ihre Begleiter Magister Ado, Schwester Gisa und auch Bruder Faro hatten ein offenes Ohr für ihre Fragen über die Beschaffenheit der Berge, der Pflanzen-und Tierwelt und antworteten freundlich und geduldig. Schließlich wies Bruder Faro auf einen Berg, der sich links von ihnen in einiger Entfernung über alle anderen erhob.
»Das ist der Monte Antola. Heute Abend werden wir noch diesseits von ihm rasten, dann verlassen wir die Salzstraße und ziehen morgen weiter ins Tal der Trebbia nach Süden. Unsere Abtei liegt hoch oben auf dem Steilufer der Trebbia.«
»Die Trebbia entspringt dort hinten bei dem Monte Perla«, ergänzte Magister Ado, »und fließt dann die ganze Strecke bis zu dem riesigen Strom, den wir den Padanus nennen. Aber das ist noch ein ganzes Stück weiter nördlich von Bobium.«
Je weiter sie ritten, desto mehr gewann Fidelma den Eindruck, dass die Berge doch beträchtlich höher aufragten, als sie es von Irland gewöhnt war.
»Müssen wir bis über die Berge?«, fragte sie besorgt angesichts der schroffen Höhenzüge.
»Es gibt einen Pass«, versicherte ihr Bruder Faro, »und haben wir erst mal den erreicht, bleiben wir dort auch über Nacht.«
Tatsächlich fanden sie auf der Passhöhe eine kleine Herberge, die Unterkunft für Durchreisende bot. Sie waren nicht die Einzigen; auch einige Kaufleute, die südwärts zogen, rasteten dort. In einer warmen Ecke machten sie es sich gemütlich und tauschten sich über ihre Heimatländer aus. Magister Ado konnte gar nicht genug erfahren über das Land, aus dem Columbanus gekommen war, und Fidelma erfuhr manches über die Herkunft ihrer Weggefährten.
Schwester Gisa gehörte zu den Langobarden, sie war im Trebbia-Tal aufgewachsen. Wie Fidelma bereits bemerkt hatte, war die Schwester nicht nur ausgesprochen hübsch, sondern auch klug. Wann immer sie sich zu einer Frage äußerte, tat sie das wohlüberlegt. Fidelma schätzte sie nicht älter als einundzwanzig oder zweiundzwanzig. Sie war nach Bobium gekommen, um unter Magister Ado die Rechenkunst zu erlernen. Bruder Faro war erst seit zwei Jahren in der Abtei, aber abgesehen davon, dass er von irgendwo im Norden stammte, erfuhr Fidelma wenig über ihn.
»Ist Bobium ein conhospitae – ein gemischtes Haus?« Fidelma erkundigte sich danach, weil sie gehört hatte, dass immer noch fromme Brüder und Schwestern aus ihrer Heimat kamen, um in der Abtei zu leben.
»Nein«, erwiderte Magister Ado ohne Umschweife. »Ist es auch nie gewesen. Bis vor zwanzig Jahren wurde unsere Abtei nach der Regel geführt, die unser Gründer Columbanus festgesetzt hatte. Dann entschied sich Abt Bobolen mit Zustimmung der ganzen Bruderschaft, die Regula Benedicti zu übernehmen.«
»Die Benediktinerregel?« Fidelma wusste genug von den Zwistigkeiten, die diese Regel zwischen den Abteien in ihrem Heimatland verursachte. »Ihr habt die Regel eures Gründervaters aufgegeben?«
»Wir müssen mit der Zeit gehen«, entgegnete Magister Ado. »Die Regel des Columbanus war sehr harsch, es war unumgänglich, sich auf Kompromisse einlassen.« Er bemerkte, wie verwirrt sie dreinschaute. »Das scheint dich zu verwundern. Es war aber so, dass sich viele nicht mit der strengen Disziplin und den harten Strafen abfinden wollten, die Columbanus eingeführt hatte. Wenn zum Beispiel ein Mitglied der Abtei frühmorgens nicht die Zeit fand, sich zu rasieren, und unrasiert zur Messe erschien, wurde er mit sechs Geißelhieben bestraft.«
»Aber das ist nicht die Art, nach der klösterliche Gemeinschaften in Irland leben«, protestierte Fidelma. »Wie konnte dergleichen zur Regel von Colm Bán gehören?«
»Wie auch immer, wir haben sie zugunsten der des Benedikt aufgegeben.« Er sah sie nachdenklich an und fügte hinzu: »Einige der Brüder, die aus Hibernia zu uns gekommen sind, waren ebenfalls sehr erstaunt, als sie hörten, mit welcher Härte die Regel des Columbanus durchgesetzt wurde.«
»Das kann ich mir gut vorstellen. Diese Regel hat nichts mit den Grundsätzen zu tun, die in unseren Abteien gelten. Das klingt eher nach den Bußgesetzen, die einige nun auch unserem Land aufzwingen wollen. Meinst du, Colm Bán war bestrebt, die römischen Pönitenzvorschriften einzuführen?«
Schwester Gisa versuchte die Dinge zu erklären. »Ich habe gehört, Columbanus stand vor dem Problem, Zucht und Ordnung unter seinen Anhängern herzustellen, die aus den Ländern der Franken und Langobarden stammten. Dazu war eine starke Hand nötig, und deshalb hat er wohl strengere Regeln aufgestellt, als sie in seinem Land üblich waren.«
»Wenn die Abtei sich nun nach der Regula Benedicti richtet, wie du sagst, bedeutet das, dass in der Abtei die Geschlechter voneinander getrennt sind?«
Magister Ado bestätigte ihre Frage mit einem Kopfnicken. »Es gibt ein Haus für die Frauen außerhalb der Hauptgebäude der Abtei. Aber während der Arbeit und zum Gottesdienst bestehen wir nicht auf der strikten Trennung von Brüdern und Schwestern. Auch kommen die Nonnen vor der Andacht regelmäßig zu uns zur Abendmahlzeit. Nicht wenige meinen, wir sollten ein conhospitae sein, also ein gemischtes Haus, wie es in deinem Land üblich ist.«
»Unterstützt euer gegenwärtiger Abt die Trennung der Geschlechter?«
»Er gehört zu den Asketen, die sich dem Zölibat verschrieben haben«, warf Schwester Gisa ein, presste aber sofort die Lippen zusammen, als hätte sie es lieber nicht sagen sollen.
»Abt Servillius und ich sind seit langem Freunde », stellte Magister Ado klar und warf der jungen Schwester einen tadelnden Blick zu. »Wir haben uns kennengelernt, als wir noch junge Männer waren. Er entstammt einer alten Patrizierfamilie Roms und ist sehr stolz darauf. Er ist ein standhafter Verteidiger des Zölibats und erinnert uns oft daran, dass es diesen alten Brauch schon bei den Priestern des Bacchus in Rom gab. Ihn zu befolgen, hieße, sicherer zur Erfüllung unserer Glaubensgrundsätze zu gelangen.«
»Eine Auffassung, die in Rom immer stärker um sich greift«, bestätigte Fidelma. »Führt das in Bobium zu Spannungen?«
»Nein, nicht innerhalb der Abtei, denn alle Brüder sind darin eines Sinnes«, erwiderte Magister Ado rasch. »Anlässe zu Spannungen werden meist von draußen hereingetragen.«
»Spielst du auf die Anhänger des Arius an?« Fidelma bemerkte die beklommenen Blicke, die Bruder Faro und Schwester Gisa wechselten.
»Grund zur Besorgnis gibt es deswegen keinen«, erwiderte Magister Ado. »Aber falls du denkst, der Überfall auf mich hätte etwas mit ihnen zu tun, nun ja, vielleicht war es ein Akt der Vergeltung, weil ich gegen die lasterhaften Bischöfe und Adligen hier gewettert habe. Die geben vor, sie seien Anhänger des Arius. Sie nutzen das Banner des Arius und rechtfertigen damit ihre Übergriffe auf die klösterlichen Gemeinschaften.«