»Und das soll kein Grund zur Besorgnis sein? Wie du mir erzählt hast, warst du in Genua kaum an Land gegangen, als du überfallen wurdest. Wie lange bist du unterwegs gewesen?«
Er schaute sie forschend an. »Du bist beharrlich mit deinen Fragen, Fidelma.«
»Das liegt an meiner Ausbildung. Ich bitte um Verzeihung, wenn meine Frage irgendwie ungehörig war.«
Der betagte Geistliche schien sich zu entspannen und lächelte. »Schon gut. Ich war bloß ein paar Wochen fort, habe die Reise nur unternommen, um eine alte Handschrift aus dem scriptorium der Abtei Tolosa zu erwerben. Doch jetzt sind wir beinahe zu Hause. Morgen reiten wir ins Trebbia-Tal hinein, und dort haben wir nichts zu befürchten.«
Es erstaunte Fidelma, dass ein Mann, dem man eben erst aufgelauert hatte, so voller Selbstvertrauen war und jede Furcht vor weiteren Gefahren von sich wies.
Am nächsten Morgen verließen sie die Landstraße und folgten einem schmaleren Weg über die Hügel des Vorgebirges. Bald stiegen sie in ein sich in vielen Windungen hinziehendes Tal hinab, durch das ein wasserreicher Fluss munter dahinströmte.
»Das ist die Trebbia«, erklärte Bruder Faro, der nun neben Fidelma ritt. Magister Ado und Schwester Gisa waren ein Stück vor ihnen. »Der Fluss fließt auch an Bobium vorbei. Noch eine Übernachtung am Monte Lésima, und am Morgen danach liegt dann der geheiligte Ort vor uns, an dem sich Columbanus mit seinen Anhängern niedergelassen hat.«
Das Tal erinnerte Fidelma wieder stark an die saftig grünen Täler aus ihrer Heimat. Kein Wunder, dass Colm Bán sich gerade für diese Umgebung entschieden hatte, als er die Heimstatt für seine Gemeinschaft gründete. Vielleicht hatte er sich hier ähnlich zu Hause gefühlt wie in seinen heimatlichen Gefilden. Auf den sanften Hängen zu beiden Seiten des Flusses standen Buchen mit ihren leuchtend grünen Blättern in vollem Laub, dazwischen erhoben sich massive Erlen mit weitverzweigten Kronen, unter denen wenig wuchs. Ihr dichtes Blattwerk bildete im Sommer einen Schirm, der kaum Licht durchließ, auf das niedrige Sträucher angewiesen waren. Während die Buchen meist die höher gelegenen Hänge bevorzugten, standen unten die robust wirkenden Mehlbeerbäume. Fuhr eine Brise durch die Blätter, zeigten sie oft ihre silbrig-weiße filzige Unterseite. Wo immer die Bäume weniger dicht standen, wuchsen Adlerfarne und andere Farnkräuter. Um manche Bäume schlangen sich auch die kräftigen Stämme der wilden Klematis. Ihren weißen und grünlichen Blüten entströmte angenehmer Vanilleduft.
Bruder Faro spürte, mit welchem Interesse Fidelma die ihr neue Umgebung in sich aufnahm. In solchen Momenten gab er seine Zurückhaltung auf und suchte das Gespräch. »Du erinnerst dich gewiss an das Mahl, das wir gestern Abend vorgesetzt bekamen.« Er wies auf eine Gruppe stattlicher Bäume in Ufernähe. »Das sind Esskastanien. Wir haben von ihren Früchten gegessen.«
Fidelma kannte derartige Baumriesen von ihrer Reise durch die angelsächsischen Königreiche. Ein alter weiser Mann hatte ihr erzählt, dass die Römer vor langer, langer Zeit den Baum dort heimisch gemacht hatten.
»Die sind den Bäumen ähnlich, die ich im Lande der Angelsachsen gesehen habe, aber die Früchte werden dort nicht reif, man kann sie nicht essen wie hier.«
Magister Ado und Schwester Gisa hatten haltgemacht und warteten auf sie. Schwester Gisa, die die letzten Sätze ihrer Unterhaltung gehört hatte, ergänzte: »Die Nüsse dieser Bäume sind fettreich und sehr schmackhaft. Wir verwenden sie in verschiedenen Gerichten. Man braucht die stachlige Fruchthülle nur aufzuschlitzen, um an den Kern zu kommen.«
Magister Ado ließ sich nun zurückfallen und ritt neben Bruder Faro, damit die beiden Frauen sich weiter über die landesübliche Küche unterhalten konnten. Schwester Gisa und Bruder Faro ritten auf der Flussseite des Wegs, während Fidelma und Magister Ado sich auf der Bergseite hielten.
Vor ihnen bemerkte Fidelma einen Vogel mit spitzen Flügeln und langem Schwanz; er hatte am Fluss links neben ihnen gestanden und flog plötzlich auf. Dabei stieß er kurze, scharfe Schreie aus, ein Turmfalke, wie Fidelma wusste. Wenig später drangen schrille Rufe aus dem Wald, zwei große dunkle Vögel mit breiten gerundeten Schwingen und kurzen Hälsen stiegen steil aus den Baumkronen auf. Mäusebussarde. Das Vogelgeschrei steigerte sich. Die Unruhe unter den Vögeln bedeutete Gefahr. Wachsam suchte Fidelma mit den Blicken den dunklen Waldsaum ab. Sie sah einen Schatten neben einem Baum, drehte sich um und rief eine Warnung.
Offenbar hatte auch Magister Ado den Schatten bemerkt, denn schon hatte er sich tief über den Hals des Pferdes gebeugt. Ein Pfeifgeräusch zischte an ihnen vorbei, Bruder Faro schrie auf, rutschte vom Pferd und blieb rücklings liegen. Ein Pfeilschaft ragte aus seiner Schulter, und Blut quoll aus der Wunde. Fidelma erfasste das Geschehen sofort. Magister Ado saß wieder aufrecht. Er musste wohl gesehen haben, wie der Schütze den Bogen spannte, und hatte sich rasch geduckt. Der Pfeil war über ihn hinweggeflogen und hatte Bruder Faro getroffen. Schwester Gisa kreischte gellend auf.
Fidelma spähte zum Waldsaum hinüber. Zwei Männer mit gespanntem Bogen lösten sich aus der Deckung und kamen dreist auf sie zu. Was sollte man tun? Wenn sie flohen, mussten sie den Verwundeten den Feinden auf Gedeih und Verderb überlassen. Abzusteigen und den Bewusstlosen auf das Pferd zu hieven, blieb ihnen keine Zeit. Sich aber nicht vom Fleck rühren, bedeutete gewiss ihrer aller Tod, unbewaffnet wie sie waren.
Magister Ado schien seine eigene Rettung im Auge zu haben. Er preschte mit seinem Pferd vor, hatte sie schon überholt, blieb aber unversehens stehen, denn von vorn erklang der schmetternde Ton eines Jagdhorns. Weitere warnende Hornstöße folgten. Fidelma begriff kaum, was um sie herum geschah, zu schnell ging alles vor sich, und blieb unentschlossen auf ihrem Ross sitzen. Hinter einer Biegung des Talwegs kam in vollem Galopp etwa ein halbes Dutzend Bewaffneter heran. Sie sah eben noch, wie die beiden Bogenschützen die Flucht ergriffen und im Dickicht verschwanden.
Der Anführer des Trupps gab einige Befehle, drei seiner Reiter saßen ab und stürmten in das Waldesdickicht, den fliehenden Angreifern hinterher.
Schwester Gisa war von ihrem Maultier abgestiegen und kniete neben dem auf der Erde liegenden Bruder Faro. Fidelma eilte ihr zu Hilfe. Der Verwundete lag mit offenen Augen und stöhnte leise. Der Pfeil war ins Fettgewebe unter der Haut gedrungen, hatte aber wesentliche Muskeln verfehlt. Trotzdem musste er sofort entfernt und die Wunde versorgt werden. Die Gefahr einer Blutvergiftung, die leicht zum Tod führen konnte, war groß.
»Halt ihn fest«, wies Fidelma Schwester Gisa an, und Bruder Faro redete sie gut zu: »Es tut mir leid, aber es wird ein bisschen weh tun.«
Zum Sprechen hatte er nicht die Kraft, er nickte nur. Sie besah sich den Pfeil genau. Der war, ohne von Knochen oder Sehnen gehindert zu werden, ins Fleisch gedrungen und guckte auf der anderen Seite heraus. Die Pfeilspitze war, Gott sei Dank, glatt und ohne Widerhaken. Sie griff zu, brach das befiederte Ende so dicht wie möglich an der Wunde ab, packte dann die Spitze und zog den Rest des Schafts mit einem Ruck heraus. Bruder Faro schrie auf und wurde ohnmächtig.
»Schnell, Schwester, hol Wasser, wir müssen die Wunde reinigen.«
Schwester Gisa holte Wasser aus dem Fluss und brachte etwas aus ihrer Satteltasche mit. Fidelma wusch vorsichtig die Wunde aus, und Schwester Gisa erklärte: »Ich habe hier eine Paste aus gestoßenem Knoblauch. Mein Vater hat sie oft verwendet. Wir bestreichen damit die offene Stelle, das hilft bei der Heilung und beugt Entzündungen vor.«
Schweigend nickte Fidelma und ließ ihre Helferin gewähren und die Verletzung mit Leinwandstreifen verbinden. Bruder Faro kam wieder zu sich. Sie richteten ihn auf, lehnten ihn gegen einen Baumstamm und reichten ihm einen Becher mit Wein, den Schwester Gisa aus ihrem Vorrat hervorzauberte.