»Leg den Brüdern auch nahe, sich heute nur innerhalb der Mauern der Abtei aufzuhalten.«
»Bist du eine Wahrsagerin, dass du eine aufziehende Gefahr kommen siehst?«, fragte er und fügte sich ins Unvermeidliche.
»Hätte ich Augen, um in die Zukunft zu schauen, hätte ich mich nie vom Hafen in Genua fortbegeben.«
»Schritte, die man einmal im Leben getan hat, lassen sich nicht ungeschehen machen, meine Tochter. Sind die Würfel gefallen, müssen wir uns mit dem Ergebnis abfinden und uns bemühen, das Beste daraus zu machen.«
Fidelma blieb an der Tür stehen. »Du hast völlig recht, Ehrwürdiger Ionas. Mitunter neige ich dazu, mich klüger zu dünken als andere, wofür ich mich schämen muss. Der Fehler, den ich begangen habe, mich so völlig auf Bruder Eolann zu verlassen, wird mir eine Lehre sein.«
»Gott hat dich so erschaffen wie du bist, Fidelma, und dafür ist diese Abtei dankbar. Halte dich wacker, und komm zu uns zurück, sobald du nur kannst.«
Kurz darauf verließ sie die Abtei. Nur der Ehrwürdige Ionas sah, dass sie ein Pferd aus den Stallungen führte. Er hatte die Brüder, die sonst auf dem Hof zu tun hatten, mit verschiedenen Aufträgen fortgeschickt und öffnete ihr eigenhändig das Tor. Besorgt schaute er ihr nach, während sie sich auf ihr Ross schwang und hinunter zum Fluss trabte.
Radoalds Festung war leicht zu finden, Fidelma hatte sich den Weg dorthin eingeprägt. Sie überquerte die Buckelbrücke und hielt sich an die sprudelnden Wasser der Trebbia, ritt flussaufwärts auf dem von dichtem Wald bestandenen Uferstreifen. Es war noch früh am Tag, und die Sonne lachte vom blauen Himmel. Die vielfältigen Geräusche aus dem Forst waren so beruhigend, dass es ihr schwerfiel zu begreifen, wie in dieser harmonischen Landschaft so entsetzliche Morde verübt werden konnten. Dass Kriegszüge das friedliche Tal bald verwüsten sollten, wollte sie nicht hinnehmen.
Sie war so mit sich und ihren Gedanken beschäftigt, dass sie aufschreckte, als plötzliche Rufe an ihr Ohr drangen. Zwei Männer in schwarzen Umhängen preschten zwischen den Baumstämmen hervor. Noch ehe sie reagieren konnte, waren sie neben ihr, bedrohten sie aber nicht mit Waffen. Einer griff in die Zügel ihres Pferds, und ohne anzuhalten, ging es im Galopp am Fluss entlang. Der andere folgte dicht auf.
Sie war ihnen ausgesetzt und ärgerte sich, dass sie in ihrer Tagträumerei nicht bemerkt hatte, wie man ihr auflauerte. Ihre Verärgerung wuchs, als sie dann noch die beiden erkannte. Das flammende Schwert im Lorbeerkranz auf ihrem Wams sagte ihr genug. Sie glaubte, in ihnen den Männern ausgeliefert zu sein, die in Genua über Magister Ado hergefallen waren und die später im Tal der Trebbia mit Pfeil und Bogen auf den ehrwürdigen Geistlichen zielten und dabei versehentlich Bruder Faro trafen.
Sie blieben stumm. Einer beugte sich leicht vor und hielt die Zügel ihres Pferds so fest, dass sie es nicht lenken konnte, der andere ritt unmittelbar hinter ihr. Sie hatte alle Mühe, sich bei dem scharfen Trab im Sattel zu halten.
Doch merkte sie, der Ritt ging weiter stromaufwärts, und es überraschte sie auch nicht sonderlich, als sie von der Trebbia abbogen und einen Hügel hinauf Radoalds Festung zustrebten. Genau das war ja ihr Ziel.
Die Tore der Festung taten sich auf, und ihre Begleiter sprengten mit ihr auf den Burghof. Sie würde sich auf Unerwartetes einstellen müssen. Eine Reihe noch ungelöster Fragen bedrängte sie, aber sie war zuversichtlich; in groben Zügen wusste sie, wie sie dem Rätsel beikam.
Noch immer sprach niemand mit ihr, auch selbst, als sich der Staub, den sie aufgewirbelt hatten, allmählich legte, bewegte sich keiner. Aus dem Hauptportal der Großen Halle trat eine Gestalt mit wallendem weißen Haar – hoch aufgerichtet, lächelnd. Es war der Arzt, Suidur der Weise.
»Willkommen, Schwester Fidelma – oder sollte ich dich die Edle Fidelma nennen? Ich bin mir nie sicher, wie man eine Prinzessin anredet, die Nonne geworden ist.« Er machte eine kleine spöttische Verbeugung. »Jedenfalls bist du uns hochwillkommen. Steig ab und tritt ein. Ein erfrischender Trunk steht bereit, der Staub der Straße wird dir die Kehle ausgedörrt haben.«
KAPITEL 19
»Fragt sich, ob ich wirklich willkommen bin«, entgegnete Fidelma und glitt von ihrem Pferd. »Der Empfang, der mir bereitet wurde, war ziemlich absonderlich.« Ihr Blick auf die Geiselnehmer sagte alles.
»Das sind Wulfoalds Krieger« erklärte Suidur. »Ich befürchte, manchmal gehen sie ein bisschen übereifrig zu Werke, und dafür entschuldige ich mich.«
»Ihren Übereifer kenne ich zur Genüge, zum ersten Mal habe ich ihn in Genua erlebt, und dann wieder, als ich in dieses Tal einritt.«
Suidur wechselte mit den Kriegern ein paar Worte in der Landessprache. Sie machten die Ehrenbezeigung und zogen mit den Pferden ab. Er schaute sie vergnügt an und winkte ihr, ihm zu folgen. »Dass du Dinge durchschaust, edle Dame, ist mir schon bei unserer ersten Begegnung aufgefallen.«
In der Großen Halle saß Seigneur Radoald mit einem älteren, in grobem Wollzeug gekleideten Mann. Er hatte langes graues Haar und hielt sich gebeugt. Beide standen auf, als sie, von Suidur begleitet, hereinkam. In der Art, wie sich der ältere der beiden erhob, erkannte Fidelma sofort, dass die gebückte Haltung nur vorgetäuscht war. Sie schaute ihm ins Gesicht, und ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Wie du siehst, Fidelma, haben wir dich erwartet«, begrüßte sie der junge Seigneur von Trebbia.
»Mich erwartet? Eher glaube ich, deine Spione haben erkundet, dass ich die Abtei verließ und den Weg hierher einschlug. Haben deine Krieger mir deshalb aufgelauert?«
Der Mann in der Kutte aus schlichtem selbstgewebtem Tuch beantwortete ihre Frage. »Wir befinden uns in einem Konflikt mit Gegnern, die bislang unfassbar wie Schatten sind. Ein Risiko einzugehen, können wir uns nicht erlauben.«
Radoald wollte den Mann vorstellen, der eben gesprochen hatte: »Das ist …«
»Aistulf«, sagte Fidelma lachend. »Du brauchst mir nicht den gebeugten, älteren Eremiten vorzuspielen. Du bist fürwahr ein sonderbarer Eremit, Aistulf. Spielst auf der Muse, sprichst Latein und befehligst Krieger. Warum verbirgst du dich in den Bergen und lässt deinen Sohn an deiner Stelle als Seigneur von Trebbia regieren?«
Er war es, der das erstaunte Schweigen nach ihrer Frage brach. »Wir haben dich unterschätzt, Fidelma von Hibernia«, sagte er leise. »Wie bist du darauf gekommen? Du bist doch fremd hier. Abgesehen von Servillius und Gisa habe ich mich keinem aus der Nähe gezeigt, um nicht als der ehemalige Seigneur von Trebbia erkannt zu werden. Die Mitglieder meines Haushalts sind auf Verschwiegenheit verpflichtet. Wie bin ich verraten worden?«
»Du bist nicht verraten worden, Seigneur Billo. Jedenfalls nicht von mir. Ich bin durch eine logische Schlussfolgerung darauf gekommen. Als Suidur uns ins Trebbia-Tal geleitete, habe ich euch dort oben zufällig belauscht. Ihr dachtet, ich schliefe. Als du in dem Gespräch sagtest, du würdest nicht gleich in die Berge zurückgehen, sondern erst noch mit deinem Sohn sprechen, war mir die Verbindung klar. Es ist allgemein bekannt, dass Seigneur Billo und sein Sohn Radoald für Grimoald in den Kampf zogen. Radoald kehrte vom Kriegszug heim und wurde zum Seigneur von Trebbia ausgerufen. Zur gleichen Zeit ließ sich ein Einsiedler, nämlich der Eremit Aistulf, in den Bergen nieder. Da war es doch leicht, gewisse Schlüsse zu ziehen.«
»Nach den Feldzügen gegen Perctarit wollte ich in Frieden leben, wusste aber, dass mich vielerlei daran hindern würde. Daher habe ich meine Herrschaft meinem Sohn Radoald übertragen, habe meinen Namen geändert und mich in den Frieden dieses Tals zurückgezogen. Meine Tage wollte ich in Beschaulichkeit enden, nie wieder Männer, Frauen oder Kinder blutüberströmt sehen, nie wieder die Schreie der Verwundeten und Sterbenden hören. Ich wollte so und nicht anders leben. Mein Sohn ist jetzt Seigneur von Trebbia. Aber unseligerweise ist mir der Tod in dieses Tal gefolgt, und nun muss ich helfen, ihn zu vertreiben. Mein Sohn wird auch weiterhin Seigneur von Trebbia sein. Sobald wir die Geschichte hier zu einem glücklichen Ende gebracht haben, ziehe ich mich wieder ins Einsiedlerleben zurück. Ich bleibe Aistulf der Eremit.«