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Radoald winkte einem Bediensteten, der ihnen eine bauchige Flasche und Becher brachte. »Setz dich«, lud er Fidelma ein, »und gönn dir eine Erfrischung.«

Sie hatte sich längst die Lebensweisheit zu eigen gemacht, wenn dir keine andere Wahl bleibt, füge dich in das Unvermeidliche. So folgte sie der Aufforderung und nahm den Becher, bat aber um kaltes Wasser aus einer Bergquelle, denn für sie gab es nichts Erfrischenderes als das.

»Warum habt ihr mich erwartet?«, wollte sie von Aistulf wissen.

»Wir haben dich erwartet, weil mein lieber Freund Servillius gesagt hat, er würde dich zu uns schicken. Hat er dir nicht erklärt, dass er meinte, du könntest hier von Nutzen sein?«

»Abt Servillius wurde gestern Nacht ermordet«, gab sie ihm unumwunden zu verstehen.

Ihre Mitteilung wurde mit bleiernem Schweigen aufgenommen, tiefes Luftholen deutete an, wie jeder mit sich um Fassung rang. Fidelma bemerkte Schwester Gisa in der Tür und fühlte sich für einen Augenblick in ihrer Vermutung bestätigt. Sie hatte zu Recht erwartet, das Mädchen in Radoalds Festung vorzufinden. Die junge Nonne lief zu Suidur, der sie in die Arme nahm und tröstete.

»Ich hatte davon Kenntnis bekommen, dass du Freifrau Gunora tot aufgefunden hast«, nahm Aistulf das Gespräch wieder auf. »Als ich die Totenklage für sie spielte, ahnte ich nicht, dass sie auch meinem armen Freund galt.«

»Da hatte Bruder Bladulf ihren Leichnam noch nicht vom Berge zu Tal geschafft. Du hast die Totenklage nicht nur für Servillius, sondern auch für Hawisa und Bruder Eolann erklingen lassen.«

Aistulf erschrak. »So oft hat der Tod zugeschlagen?«

»Wie Hawisa starb, haben wir von Wulfoald erfahren, aber …«, begann Radoald.

Doch der Eremit fiel ihm ins Wort: »Mir scheint vernünftiger, die Edle Fidelma schildert uns erst einmal, was sich inzwischen alles zugetragen hat.«

Sie erzählte ihnen, was sie wusste.

»Lass mich einiges wiederholen, um nichts durcheinanderzubringen«, sagte Aistulf, als sie geendet hatte. »Wulfoald hat ohne dich die Abtei verlassen, nachdem ihr erfahren hattet, Servillius wäre heimgekehrt, hätte aber strikte Order erlassen, ihn nicht zu stören. Später seid ihr dann, der Ehrwürdige Ionas und du, zu Servillius gegangen, habt ihn aber tot vorgefunden.«

»Im Wesentlichen stimmt das so.«

»Du hast Servillius nicht mehr gesehen, und er hat dir nie erklärt, warum du hierherkommen solltest?«

»Was hätte er mir denn erklären sollen?«, war ihre Gegenfrage.

»Er sollte dir nahelegen, mit Wulfoald hierherzukommen, wie wir mit ihm verabredet hatten. Wulfoald hat uns nur berichtet, dass er Servillius nicht zu Gesicht bekam und demzufolge keinerlei Botschaft von ihm erhielt.«

Fidelma biss sich auf die Lippen. »Er hatte ja keine Gelegenheit, ihn zu sprechen. Ich war versessen darauf, der falschen Fährte zu folgen, die Bruder Eolann gelegt hatte. Kaum war ich wieder in der Abtei, habe ich den Ehrwürdigen Ionas aufgesucht und ihm die Vorgänge aus meiner Sicht dargelegt. Wie eine Närrin habe ich mich irreleiten lassen, und so wurde viel Zeit vertan. Als der Ehrwürdige Ionas und ich zum Abt gingen, stellten wir fest, dass er wahrscheinlich gleich nach seiner Rückkehr in die Abtei ermordet worden war.«

»Wenn dich also nicht die Nachricht erreicht hat, die dir Servillius übermitteln sollte, was hat dich veranlasst, heute früh hierherzukommen?«, fragte Suidur barsch.

Fidelma überging die Frage und äußerte die Vermutung: »Ich darf wohl annehmen, Prinz Romuald befindet sich hier in Sicherheit.«

Radoald war vollends überrascht und wäre fast aufgesprungen. »Wie hast du wissen können, dass er hier ist?«

»Recht einfach. Abt Servillius hatte mir gesagt, Freifrau Gunora und der Prinz hätten noch vor der Morgendämmerung die Abtei verlassen und sich auf den Weg zu deiner Festung aufgemacht. Ich habe Gunoras Leichnam gefunden. Der Junge fehlte. Als ich jedoch Wulfoald berichtete, dass Freifrau Gunora tot aufgefunden wurde, hat er nicht nach dem Prinzen gefragt. Er hat mich nur getadelt, ich hätte ihn schon früher davon in Kenntnis setzen müssen.«

»Was hast du daraus geschlussfolgert?«, wollte Aistulf wissen.

»Man war nur besorgt, dass Freifrau Gunora fehlte. Das bedeutete doch, Prinz Romuald war hier in Sicherheit. Und du, Aistulf, hast das selbst bestätigt.«

»Ich hätte das bestätigt?«

»In den Bergen habe ich dich sagen hören: ›Wenn die Schilderung des Jungen stimmt, dann muss Freifrau Gunora tot sein.‹ Was hat der Junge euch denn erzählt?«

Statt einer Antwort kam Radoalds Gegenfrage. »Was hat sich deiner Ansicht nach zugetragen?«

»Freifrau Gunora und der Junge wurden beobachtet, als sie auf nur einem Pferd aus der Abtei ritten. Ich vermute, man ist ihnen bald gefolgt. Gunora dürfte das bemerkt haben, sie hat dem Jungen gesagt, er soll absteigen und sich irgendwo verstecken. Sie würde versuchen, die Verfolger abzulenken. Das gelang ihr auch, soweit es den Jungen betraf. Sie jedoch hat man eingeholt und erschlagen.«

Aistulf nickte bekümmert. »Du hast recht, soweit es den Jungen betrifft. Wulfoald fand ihn früh am Morgen jenes Tages am Fluss. Der Prinz erzählte ihm, Freifrau Gunora wollte zur Abtei zurückreiten und hätte ihm befohlen, sich zwischen Gebüsch und Felsen zu verstecken. Falls sie nicht bald zurückkäme, sollte er zur Festung meines Sohnes Radoald gehen, aber auf keinen Fall zurück in die Abtei.«

»Freifrau Gunora muss also versucht haben, die Verfolger in die falsche Richtung über den Monte Pénas zu lenken«, überlegte Fidelma laut. »Die arme Gunora. Sie hat sich aufgeopfert. Ist der Junge nun wirklich sicher geborgen?«

»So, wie du vermutest«, versicherte ihr Suidur.

»Eines dürfte dich noch besonders interessieren«, fügte Aistulf hinzu. »Der Prinz hat aus seinem Versteck die Verfolger zu Gesicht bekommen. Das heißt, nur einen. Seine Beschreibung passt genau zu dem Reiter, wie ihn Odo Wulfoald und dir geschildert hatte. Und ebenso zu der Gestalt, die der Hirt während des Waldbrands von Hawisas Hütte hate fortreiten sehen.«

»Ein Mann auf einem fahlen Pferd?«

»Der Prinz behauptet auch steif und fest, dass der Reiter auf dem fahlen Pferd ein Krieger war.«

Fidelma schwieg eine Weile. »Nun erzählt mir, warum ihr mich hier haben wolltet.«

»Mein Freund Abt Servillius war überzeugt, dass man dir vertrauen könnte«, antwortete Aistulf. Prüfend schaute er in die Runde. »Es wird dich nicht überraschen, dass wir König Grimoald unterstützen.« Da Fidelma nichts dazu sagte, fuhr er fort: »Wir nehmen an, dass dich das Für und Wider des Krieges, der nun auszubrechen droht, weniger interessiert. Dieser Krieg aber beunruhigt uns ungemein – Perctarit will mit Hilfe seiner Anhänger und seiner Verbündeten aus dem Frankenreich den Thron der Langobarden zurückerobern.«

»Es ist, wie du sagt, mit diesen Vorgängen in der hohen Politik habe ich nichts zu schaffen, denn es ist euer Land und nicht meins.«

»Das ist wohl einzusehen, doch warum bist du hinzugesprungen, um Magister Ado zu verteidigen, als die Krieger König Grimoalds ihn gefangen nehmen wollten?«

»Das war der reine Zufall. Ich sah, dass zwei Männer einen älteren Geistlichen in einer Seitengasse überfallen wollten. Als wir später in dieses Tal einritten, versuchten eben diese Männer, ihn aus dem Hinterhalt zu ermorden.«

»Hättest du nicht den Warnschrei ausgestoßen«, sagte Schwester Gisa grollend, »dann hätten sie ihr Ziel nicht verfehlt. Statt dessen trafen sie Bruder Faro.«

»Das ist ein Vorfall, den ihr mir erklären müsst. Die mutmaßlichen Mörder waren gekleidet wie die Gewappneten eures Königs und waren demzufolge eure Verbündeten. Ist es denkbar, dass ihr die Ermordung eines älteren Geistlichen von so herausragender Gelehrsamkeit wie Magister Ado gutheißt – bloß weil es eurer Sache dienlich ist?«