»Wir hielten ihn für einen Geheimagenten Perctarits«, erklärte Schwester Gisa und schob trotzig das Kinn vor. »Für einen Feind König Grimoalds. Du hast ihn davor bewahrt, von den beiden gefangen genommen zu werden, die Grimoald entsandt hatte. Er sollte einer Befragung unterzogen werden.« Aistulf fuhr fort. »Leider waren die beiden keine besonders hellen Kerle, wie du auch herausgefunden hast. Da es ihnen nicht gelang, ihn festzunehmen, redeten sie sich ein, das Beste wäre, ihn zu ermorden.«
»Statt dessen haben sie Bruder Faro verwundet«, wiederholte Schwester Gisa.
»Nachdem der Mordversuch fehlgeschlagen war, sind die beiden Krieger in die Festung gekommen, um Bericht zu erstatten. Ich habe dich, Suidur, und Gisa gesehen, wie ihr sie gescholten habt.«
»Wie hast du denn das bewerkstelligt?«, rief Radoald.
»Burghöfe sind nicht der geeignetste Platz, um Dinge zu besprechen, auch nicht im Dunkel der Nacht, und bei Vollmond schon gar nicht.«
»Aber du sprichst doch nicht die Langobardensprache«, wandte Suidur ein. »Wie hast du wissen können, was da vor sich ging?«
»Vielleicht erinnerst du dich, dass du Schwester Gisa getadelt hast, weil sie ins Latein verfiel.«
Nach einer Pause räumte Suidur ein: »Das war wohl so. Grimoalds Kriegern wurde klargemacht, dass sie Magister Ado hinfort in Ruhe lassen sollten. Er sollte sich frei bewegen können und uns so auf die Spur des Goldes bringen.«
»Lass den Strick locker, an dem er sich am Ende selbst erhängt, heißt doch die Redensart«, ergänzte Aistulf.
»Und was, wenn er nicht Perctarits Mittelsmann ist?« Fidelma seufzte. »Ich wundere mich, Suidur, dass du deiner Tochter nicht beigebracht hast, dass Bemerkungen coram iudice als schwerwiegende Beweise gelten können.«
Schwester Gisa schaute erstaunt hoch, aber der Arzt lachte sogar. »Edle Dame, du besitzt einen Scharfsinn sondersgleichen.«
»Dass sie deine Tochter ist, habe ich daraus geschlossen, dass sie in der Heilkunde gut beschlagen ist, es hieß auch, ihr Vater sei Arzt gewesen, und außerdem ist sie in diesem Tal aufgewachsen.«
»Servillius hatte uns geraten, bevor er von hier wegging, dich in keiner Weise zu behindern, du würdest ohne uns herausfinden, wer die Verschwörer sind«, warf Radoald ein. »Das hat er doch gesagt, nicht wahr, Vater?«
Der alte Herrscher der Festung schmunzelte. »Er hat sogar gesagt alis volat propriis: Sie fliegt auf ihren eigenen Schwingen.« Fidelma war der Spruch geläufig. Er bedeutete so viel wie: Sie war frei von Vorurteilen und ging die Dinge an, wie sie es für richtig hielt.
Radoald neigte sich zu ihr. »Lass dir erklären, warum wir Magister Ado verdächtigt haben. Sein Ruf als hervorragender Gelehrter der Abtei Bobium ist unumstritten. Er vertritt standhaft das Nicänische Glaubensbekenntnis …«
»Die ganze Abtei hat sich dem verpflichtet«, betonte Fidelma.
»Doch Bobium ist es auch zufrieden, unter der Herrschaft von König Grimoald zu stehen, obwohl der ein Anhänger des Arius ist. Immerhin hat er freigeistige Ansichten und gestattet seinen Untertanen, selbst zu wählen, welchen zu Christus führenden Weg sie gehen wollen.«
»Das weiß ich«, warf Fidelma ungeduldig ein. »Perctarit hingegen neigt zum Nicänischen Bekenntnis. Habe ich alles schon gehört.«
»Als nun Magister Ado die Reise nach Tolosa unternahm, vermuteten wir, er sei ein Geheimagent Perctarits und wäre aufgebrochen, die Ladung Gold zu beschaffen, mit der Grasulf bestochen werden sollte.«
»Hättet ihr Magister Ado gefragt, dann hättet ihr erfahren, dass er auf Drängen von Bruder Eolann nach Tolosa reiste, der wirklich zu den Verschwörern gehörte. Die hatten an Magister Ados Ehrgeiz als Gelehrter und seine Kenntnis Tolosas appelliert und damit gelockt, eine kostbare Handschrift von der dortigen Abtei für die Bibliothek in Bobium zu erwerben. Ich vermute, Bruder Eolann oder sonst jemand hatte es so eingefädelt, dass es schien, der Magister habe die Reise aus eigenem Antrieb unternommen.«
Schwester Gisa war blass geworden.
»Vielleicht hatte man auch das Gerücht ausgestreut, Perctarit sei in Tolosa«, fuhr Fidelma fort, ohne die Reaktion des Mädchens zu beachten. »So legte man eine weitere falsche Fährte, um von den Verschwörern abzulenken. In Bobium gibt es drei davon, doch Magister Ado ist keiner von ihnen. Während ihr den Gelehrten in Genua beschattet habt, lagerte das Gold längst in diesem Tal. Es war auch schon in der Abtei, bevor Bruder Faro und Schwester Gisa sich aufmachten, Magister Ado aus der Hafenstadt abzuholen.«
»Aber … wie?«, entfuhr es Radoald voller Erstaunen.
»Bevor ich weiterrede, hätte ich gern gewusst, warum es so entscheidend ist, Grasulf, den Seigneur von Vars, davon abzubringen, seine Kriegerscharen zusammenzuziehen und dieses Tal zu besetzen? Das Gold ist für ihn bestimmt, er hat ein Gemüt wie ein Söldner, erst wenn seine Beute ihm sicher ist, wird er in den Kampf ziehen. Doch warum gerade hier? Ich glaube, ich kenne schon die Antwort, wäre euch aber dankbar, wenn ich zur Bestätigung auch eure Ansicht hören könnte.«
Radoald übernahm es, ihr die strategischen Überlegungen zu erläutern. »Die Antwort ist so einfach, wie du vermutest. Du weißt sicher, dass die Straßen, die von Genua durch die Berge hier führen, schon immer lebenswichtig waren. Da ist einmal die Alte Salzstraße von Genua nach Ticinum Pavia. Sie verläuft durch das Tal der Tridone, und die Festung des Seigneurs von Vars thront darüber. Die andere Straße geht durch dieses Tal und führt nach Placentia. Sie wird von dieser Burg überwacht.«
»So viel ist mir auch von anderer Seite berichtet worden«, sagte Fidelma und nickte.
»Bestens, fahren wir also fort: Diese Straßen sind für Perctarit von entscheidender Bedeutung, wenn er seine Heerscharen von Mailand aus in Marsch setzen will. Von Mailand ist es nicht weit bis Ticinum Pavia, und auch nach Placentia ist es nur ein kurzer Weg. Wenn er also gegen Grimoald zu Felde zieht, muss er nur seine Flanken sichern und kann über ebendiese Pässe von Genua Nachschub und Verstärkung für die Truppen heranholen. Durch diese Täler und über diese Pässe sind schon die Legionen der Römer gezogen, als sie die Stämme der Ligurer beiseitefegten, die Boii besiegten und über den gewaltigen Padus vordrangen. Jenseits des Stroms haben sie die Kampfscharen der Tauriner, der Insubrer und der Cenomanen geschlagen. Alle diese Gebiete hießen dann Gallia Cisalpina und waren Teil des Römischen Reichs. Placentia wurde sogar zur ersten römischen Colonia ausgebaut. Mal dir nur aus … was geschieht, wenn Perctarit diese Pässe unter seine Kontrolle bringt.«
»Das Ergebnis wäre ziemlich eindeutig«, räumte Fidelma ein.
Aistulf war es dann, der eine völlig unerwartete Frage stellte: »Ist dir bekannt, dass der Karthager Hannibal mit seinen Elefanten hier umhergezogen sein soll? Es wird berichtet, er habe seine Mannen im Trebbia-Tal ein Lager errichten lassen, während er in die Berge auf der anderen Seite des Flusses gestiegen sei, um Übersicht auf das ganze Gebiet zu gewinnen.«
»Von Hannibal habe ich schon gehört«, bestätigte Fidelma und wunderte sich, warum plötzlich ein gänzlich anderes Thema angeschnitten wurde.
»Hast du auch von einem Geschöpf gehört, das Elefant genannt wird?«
»Von dem sonderbaren Tier habe ich sehr wohl gehört. Einer der Cäsaren hat sie nach Britannia gebracht, dem nächsten Nachbarn meiner Heimat. Er hat damit die Menschen in Angst und Schrecken versetzen und ihr Land erobern wollen.«
»Lass mich dazu noch eine Geschichte erzählen. Als Hannibal am Vorabend der Schlacht an der Trebbia – seines ersten Siegs über die römischen Legionen – hier sein Lager hatte, sind drei Männer aus dem Dorf gekommen, um die seltsamen Tiere zu untersuchen, weil sie sich von dem, was die Nachbarn erzählten, kein rechtes Bild machen konnten. Aber diese drei waren blind. Einer tastete an einem der Kolosse ein Bein ab. Der Elefant ist wie ein Baumstamm, erklärte er den anderen. Der Nächste befühlte den Rüssel des Tieres und meinte, der Elefant ähnele einer fremdartigen Schlange. Der Dritte schließlich bekam ein Ohr zu fassen, und verkündete, der Elefant sei ein riesiges Geschöpf mit Flügeln.«