Fidelma wartete schweigend ab, was sich aus der Fabel ergeben sollte.
»Nun?«, fragte Aistulf und lächelte verschmitzt, »was kannst du daraus lernen?«
»Sie hatten alle unrecht.«
»Natürlich. Und warum?«
»Weil sie nicht das ganze Geschöpf sehen konnten.«
»Prachtvoll«, freute sich Radoald.
»Wollt ihr mir damit sagen, wir kennen immer nur einzelne Teile der Geschichte? Wenn wir sie zusammensetzten, würden wir das Ganze sehen? Also gut. Tragen wir zusammen, was wir wissen. Der frühere König Perctarit ist bestrebt, euren König Grimoald zu stürzen. Er ist bereits mit seinen Heerscharen in euer Gebiet eingefallen und wird von den Franken unterstützt. Um sich dem Heer eures Königs zum Kampf zu stellen, benötigt er Nachschub und Truppenverstärkung. Die ist am leichtesten über den Hafen von Genua heranzuholen. Von der Hafenstadt gibt es zwei Wege durch die Täler zum bisherigen Lager seiner Streitmacht. Ihr überwacht einen dieser Wege und Grasulf von Vars den anderen. Grasulf ist von Natur aus ein Söldner. Perctarit braucht nichts weiter zu tun, als ihm den vereinbarten Lohn auszuhändigen, dann wird er mit seinen Kriegern beide Talstraßen besetzen.
Ich habe allerdings den Eindruck, dass Perctarit dem umworbenen Grasulf nicht traut, deshalb hat er durch seine Mittelsmänner das Gold hier ins Tal bringen lassen. Es soll ihm erst überreicht werden, wenn Perctarit seine Kriegsvorbereitungen abgeschlossen hat und die Sicherung der Nachschubwege benötigt.«
»Das ist völlig logisch«, pflichtete Radoald ihr bei.
Fidelma lächelte flüchtig. »Und nun sage ich euch Folgendes: Das Gold, mit dem Grasulf bezahlt werden soll, ist in der Abtei und hat bereits einigen das Leben gekostet.«
»Woher willst du wissen, dass das Gold dort ist?«, forderte Radoald mit Nachdruck.
»Weil der Ehrwürdige Ionas und ich es heute in aller Früh gesehen haben, und deshalb bin ich hergekommen. Ich glaube, der Hauptverschwörer ist schon bei Grasulf, dem Seigneur von Vars, und setzt ihn ins Bild. Es kann nur noch wenige Stunden dauern, bis die Abtei angegriffen wird.«
»Und du weißt, wer dieser Hauptverschwörer ist?«, fragte Aistulf.
»Ich weiß es.«
»Hast du nicht auch gesagt, Bruder Eolann steckte da mit drin?«, hakte Suidur nach.
»Ich habe nur gesagt, dass er nicht der Kopf der Verschwörung war. Der Mittelpunkt dieses Komplotts ist ein weit stärkerer Charakter.«
Plötzlich flog die Tür auf, und Wulfoald kam hereingestürmt. Sein Blick glitt über die Anwesenden, Radoald aber erwies er die Ehrenbezeigung. Man sah ihm an, er hatte Wichtiges zu vermelden.
»Der Seigneur von Vars ist im Anmarsch. Wir müssen unsere Leute darauf vorbereiten. Wie weit entfernt ist er noch?«
»Er könnte uns erreichen, noch ehe der Tag zu Ende ist.«
»Lasst uns erst hören, was Schwester Fidelma herausgefunden hat. Sie wollte uns eben sagen, wer die Verschwörer sind.«
»Die rätselhaften Vorgänge haben ihren Ursprung in der Geschichte vom Aurum Tolosanum«, begann sie.
»Wir haben jetzt keine Zeit für alte Sagen«, brummte Radoald.
»Das ist doch nur noch eine Geschichte, die sich Greise abends am Herdfeuer erzählen«, höhnte Wulfoald.
»Hören wir ihr erst einmal zu«, rügte Aistulf seinen Sohn.
»Wie ihr wisst, bin ich hergekommen, um meinen alten Mentor, Bruder Ruadán, zu besuchen. Er sei schwer verletzt, erfuhr ich schon unterwegs, weil er von einigen, die ihm seine Lehrmeinung verübelten, niedergeschlagen wurde. Wir brauchen uns nicht in Einzelheiten zu verlieren, die alle nur irreführen sollten. Ich glaube, er wurde überfallen und fast zu Tode geprügelt, weil er herausgefunden hatte, wo das Gold für Grasulf verborgen war. Ein Wagen, angefüllt mit Gold. Er wusste nicht, was es damit auf sich hatte. Nach dem, was er auf seinem Sterbebett sagte, muss er geglaubt haben, er sei auf das sagenhafte Gold von Tolosa gestoßen. ›Was aus einem nassen Grab geholt wurde, muss dorthin zurück.‹ Ich wusste nicht, was das bedeutete, doch der Ehrwürdige Ionas konnte mir erklären, woher diese Anspielung kam. Das Aurum Tolosanum war aus einem See geholt worden. Bruder Ruadán nahm ein paar herumliegende Münzen auf, möglicherweise wollte er den Ehrwürdigen Ionas um Rat fragen. Auf seinem Rückweg in die Abtei begegnete er dem kleinen Wamba, dem er in einer Anwandlung unkluger Großherzigkeit zwei der Münzen gab.
Wamba brachte eine der Münzen in die Abtei in der Absicht, dafür etwas für seine Mutter einzutauschen. Von da an nahmen die Dinge ihren verhängnisvollen Lauf. Man erkannte, dass die Münze aus dem Goldschatz herrührte. Am nächsten Tag machte sich jemand aus der Abtei auf die Suche nach Wamba und erfuhr von ihm, wer ihm die Münze gegeben hatte. Der Junge wurde umgebracht, und als man außerhalb der Mauern der Abtei auf Bruder Ruadán stieß, prügelte man ihn zu Tode, jedenfalls glaubte man das. Der alte Geistliche war jedoch noch kräftig genug, sich an die Tore der Abtei zu schleppen, und wurde zu Bett gebracht. Als der Mörder erfuhr, dass sein Opfer überlebt hatte, erkundigte er sich bei Bruder Hnikar, wie es um den Alten stände. Der Apotheker war überzeugt, der Patient würde bald sterben, was den Täter beruhigte. Der alte Mann rede wirres Zeug, glaubte der Heilkundige, und würde bald tot sein. Der Mörder wiegte sich in dem Glauben, die Sache würde sich von allein erledigen und er brauche nicht unnötigen Verdacht auf sich zu lenken – doch dann kam ich in die Abtei.«
»Und weiter? Was hattest du denn damit zu tun?«, wollte Radoald wissen.
»Weil ich nun da war, musste Bruder Ruadáns Tod beschleunigt werden. Man musste ihn umbringen, noch bevor er mit mir reden konnte. Also wurde er erstickt. Damals habe ich meinen ersten Fehler begangen. Anstatt das, was ich ahnte, für mich zu behalten, vertraute ich es dem scriptor Bruder Eolann an, da er aus meinem Königreich stammte und meine Sprache sprach. Das war ein dummer, überheblicher Fehler. Ich erwähnte, dass Bruder Ruadán von Münzen gesprochen hatte. Bruder Eolann war ein kluger Bursche, und da er zur Gruppe der Verschwörer gehörte, ersann er für mich eine falsche Fährte, um mich von der wahren Spur abzulenken. Er versorgte mich mit Hinweisen auf das Aurum Tolosanum – das Gold des Servilius Caepio. Er hatte seine Mitverschworenen überzeugt, dass er mich damit beschäftigen könnte, Schatten hinterherzujagen, bis ich mich zur Abreise entschließen würde. Vielleicht tue ich ihm unrecht. Möglicherweise hat er das getan, um seine Partner davon abzubringen, auch mich zu ermorden.«
»Doch abgereist bist du ja nicht«, warf Radoald ein.
»Es kam noch schlimmer. Schlau, wie ich mich dünkte, bat ich Bruder Eolann, mein Dolmetscher zu sein, als ich Hawisa aufsuchen wollte, Wambas Mutter. Damit brachte ich den Bibliothekar in eine schwierige Lage. Aber sein Anführer schlug ihm vor, sich einer raffinierten List zu bedienen. Er riet ihm, mich zu begleiten und Hawisas Worte so zu übersetzen, dass mein Verdacht gegenüber Wulfoald und dem Abt zusätzliche Nahrung erhielt.«
»Aber er konnte sich doch denken, dass am Ende herauskommen würde, wie er dich getäuscht hatte«, wandte Aistulf ein.
»Vielleicht nahm er an, bis dahin würde die Verschwörung ihr Ziel erreicht haben. Oder man hatte ihm geraten, er solle sich meiner auf der Wanderung zum Berggipfel entledigen. Wenn ich es mir recht überlege, könnte er ernsthaft vorgehabt haben, mich an eine gefährliche Stelle zu führen, an der ich unweigerlich abstürzen musste. Immerhin hat er das nicht übers Herz gebracht und mich sogar vor dem Absturz gerettet. Alles in allem war Bruder Eolann vielleicht doch kein so schlechter Kerl.«