»Nachdem sich das Konzil zu Nicäa darauf geeinigt hatte, was geschah dann?«
»Konstantin, der Kaiser, verbannte alle diejenigen, die sich weigerten, sich an die getroffene Entscheidung zu halten, und auch alle diejenigen, die es ablehnten, Arius und seine Anhänger zu verdammen. Er befahl, sämtliche Abschriften der Thalia zu verbrennen.«
»Thalia … was ist darunter zu verstehen?«
»Das ist das Buch, in dem Arius seine Lehrmeinung dargelegt hatte. Das Wort bedeutet nichts weiter als ›Festlichkeit‹.«
»Damit hätte der Streit beendet sein müssen.«
»So war es aber nicht. Ein anderer Kaiser, Constantius, der zweite seines Namens, wurde ein Anhänger des Arius und nutzte seine Macht, die nicänischen Bischöfe zu vertreiben, er verbannte sogar Papst Liberius und setzte statt seiner den Arianer Felix auf den Heiligen Stuhl.
Als Constantius starb, wandte sich Kaiser Julian Apostata wieder der heidnischen Götterverehrung zu. Er erklärte, jedermann habe das Recht zu glauben, was er will. Demnach war es den verschiedenen Sekten freigestellt, ihren eigenen Vorstellungen zu folgen. Dann schließlich kamen nach einigen Jahrzehnten Kaiser Theodosius und seine Gattin Flacilla an die Macht. Beide entschieden sich für das Nicänische Glaubensbekenntnis. Sie vertrieben alle arianischen Bischöfe und gaben ein Edikt heraus, demzufolge jeder Untertan des Römischen Reichs sich zum Nicänischen Glaubensbekenntnis der Bischöfe von Rom und Alexandrien zu bekennen und Treue zu schwören hatte. Wer sich dem verweigerte, wurde harter Bestrafung unterworfen.«
Fidelma war entsetzt. »Das klingt ja, als hätte sich der Neue Glaube zu einem Instrument politischer Macht entwickelt, anstatt geistliches Bedürfnis, moralisches Verhalten und verstandesgemäßes Denken der Menschen zu befördern.«
Magister Ado schnaufte verächtlich. »Mitunter müssen die Menschen auf den rechten Weg gebracht werden.«
»Aber doch wohl nicht mit Gewalt?«
»Ach, komm.« Magister Ado lachte auf. »Du bist doch Anwältin in deinem Land. Schreiben die Gesetze nicht jedermann vor, wie er sich zu benehmen hat? Und wer sich nicht fügt, wird der nicht bestraft? Bedeutet das etwa nicht, dass man die Menschen zwingt, sich moralischen Vorstellungen unterzuordnen? Was nützt es, Menschen zu Spiritualität und Moral zu ermahnen, wenn sie sich in ihrer Raffgier über alles hinwegsetzen?«
Unrecht hatte der alte Gelehrte nicht, musste Fidelma zugeben, und doch war für sie ein solcher Standpunkt moralisch durchaus bedenklich. Sie hielt es für klüger, das Thema nicht weiter zu verfolgen. Schließlich war der Mann zweimal überfallen worden – allem Anschein nach, weil er seine Glaubensvorstellungen unbeugsam verfocht. In theologische Streitfragen sollte sie sich besser nicht einmischen, war sie doch eine Fremde in einem fremden Land. Ihr vorrangiges Anliegen war, ihren ehemaligen Mentor, Bruder Ruadán, zu besuchen und ihm Trost auf seinem Krankenlager zu spenden.
Insgeheim glaubte sie schon zu verstehen, warum Arius die Ansicht vertrat, es gäbe nur einen von Ewigkeit zu Ewigkeit waltenden Gott, und dass Christus, der eingeborene Sohn, von Gott erschaffen sein musste. Und sagte nicht Christus im Evangelium des Johannes, sein Vater sei größer als er? Sie war hin und her gerissen. In ihrer eigenen Kultur waren die alten Götter und Göttinnen stets als dreieinige Gottheiten angesehen worden, jedes göttliche Wesen hatte drei Verkörperungen und drei leibliche Erscheinungsformen. Das Nicänische Glaubensbekenntnis war leichter mit den theologischen Ansichten ihres Volkes in Übereinstimmung zu bringen als der Monotheismus, der Glaube an einen einzigen Gott. Sie würde sich nach einer Abschrift des Werks des Arius, der Thalia, umtun müssen, um seine philosophische Haltung besser zu verstehen. In solche Gedanken versponnen, ritt sie eine Weile schweigend dahin.
Ohne weitere Zwischenfälle folgten sie dem Weg am Fluss entlang durch das schöne Tal. Ab und an machten sie Rast, um die Pferde und den Maulesel zu tränken und selber von dem glasklaren Wasser zu trinken oder von den Beeren zu kosten, die Schwester Gisa pflückte. Hin und wieder sah sie auch nach Bruder Faros Wunde. Zwar war es nur eine Fleischwunde, doch eine von einem Pfeil verursachte Verletzung konnte gefährlich werden.
Die beiden sie begleitenden Krieger waren nicht gerade redselig, auch sprachen sie nur in der harschen Mundart der Langobarden, ihr Latein war dürftig. Die bange Sorge, bedroht zu sein, hatte sich im hellen Sonnenschein verflüchtigt. Bei dem beruhigenden Plätschern des rastlos dahinströmenden Flusses und begleitet von den sanften Vogelrufen aus der herrlich grünen Umgebung glaubte Fidelma, sich in idyllischer Landschaft zu befinden.
Kurz nach Mittag gebot Magister Ado allen Halt. Den beiden Kriegern gelang es mit erstaunlicher Geschicklichkeit, Fische zu fangen. Rasch war ein Feuer entfacht, und die Fische wurden über der Glut gegart. Inzwischen hatte Schwester Gisa Früchte von Büschen und Bäumen gesammelt. Man lagerte sich zum Imbiss an der Uferböschung, und während sich Fidelma im Sonnenschein ausruhte, überkam sie das Gefühl, hunderte Meilen von jeder menschlichen Siedlung entfernt zu sein und erst recht von jeder Gefahr. Sie verspürte Lust, in erholsamen Schlaf zu sinken.
Hundegebell schreckte sie auf. Ein kastenförmig gestaltetes Tier mit Drahthaarfell brach aus dem Unterholz. Sein Gesichtsausdruck war fast komisch, buschige Brauen überschatteten die Augen, und der Schnauzbart verdeckte fast die kräftigen Kiefer. Es blieb stehen, schaute sich um und trottete dann, Schwanz wedelnd, zu Schwester Gisa hin. Nervös fuhr Bruder Faro hoch.
»Vorsicht, das ist ein Jagdhund«, warnte er.
Das Mädchen tätschelte dem Tier den Kopf, es schien von Natur aus gutmütig zu sein.
Die beiden Krieger waren aufgesprungen, mit der Hand sofort am Schwertgriff. Der kleine Hund ließ sich von Gisa noch eine Weile streicheln, japste freundlich, schnaubte und trottete davon.
Fidelma schien die Einzige zu sein, die begriff, weshalb der Hund Bruder Faro und die beiden Krieger beunruhigte.
»Glaubst du, hier ist eine Jagdgesellschaft ist in der Nähe?«, fragte sie Bruder Faro.
Noch ehe er antworten konnte, hörte sie Pferdegetrappel und Rufe aus Männerkehlen. Unmittelbar darauf tauchten die ersten Reiter zwischen den Bäumen auf und blieben wie angewurzelt stehen, als sie die am Ufer rastende Gruppe erblickten. Sie führten ein Maultier am Zaum, dem ein erlegter Rothirsch aufgeladen war, allem Anschein nach die Jagdbeute des Tages.
Einer von Wulfoalds Kriegern ging ihnen entgegen und rief sie in seiner Sprache an. Ein kurzer Wortwechsel, und Fidelmas Gefährten entspannten sich sichtlich. Ein junger Mann in reich bestickter Jagdkleidung und einem kurzen Umhang glitt von seinem weißen Hengst. Er hatte angenehme Gesichtszüge, war glatt rasiert und trug sein korngelbes Haar sorgsam geschnitten. Die Augen waren hellblau. Freudig lächelnd ging er mit ausgestreckten Händen auf Magister Ado zu.
»Ich heiße dich willkommen, Magister Ado. Du bist von langer Reise zurück. Wie schön, dich wieder in unserem friedlichen Tal zu begrüßen.«
Er bediente sich eines umgangssprachlichen Lateins, äußerte sich aber sicher und gewandt, wie jemand, der gebildet und zu befehlen gewohnt ist.
»Das ist sehr freundlich von dir, Seigneur Radoald«, erwiderte der ältliche Geistliche.
Ein Blick aus den hellblauen Augen streifte Bruder Faro und Schwester Gisa. »Ah, wen sehe ich da … Schwester Gisa und Bruder Faro? Seid beide herzlich willkommen.« Der junge Mann runzelte die Stirn, als er bemerkte, dass Bruder Faros Arm und Schulter bandagiert waren. »Irgendetwas stimmt nicht mit euch. Was für ein Unheil ist dir zugestoßen, mein Freund?«
Magister Ado erklärte, was vorgefallen war.