Es war für sie eine reine Routinesache gewesen, das Gerät aufzustellen. Die Aussagen des Hawkin-Bewohners mußten für künftige Studien bewahrt werden, und für verschiedene Spezia-listen am Institut würden sie sehr wertvoll sein. Sie hatte das Gerät versteckt, um zu verhindern, daß Tholan befangen war und dadurch vielleicht nicht offen sprach. Aber jetzt war sie entschlossen, das Band den Mitgliedern des Instituts nicht zur Verfügung zu stellen. Jetzt hatte es eine andere Funktion bekommen. Eine häßliche Funktion.
Sie spionierte hinter Drake her.
Sie strich mit dem Finger über das Gerät und fragte sich flüchtig, was dieser Tag für Drake wohl bringen würde. Gesellschaftliche Kontakte zwischen bewohnten Welten waren noch nicht so häufig, daß die Erscheinung des Hawkin-Bewohners auf den Straßen keine Menschenaufläufe hervorrufen würde. Aber Drake würde schon damit fertig werden. Er wurde immer mit allem fertig.
Noch einmal lauschte sie dem Gespräch von gestern abend, wiederholte die interessantesten Passagen. Drakes Behauptung, Tholan hätte über ihn Erkundigungen eingezogen, beunruhigte sie, und sie konnte es nicht glauben. Warum sollte der Hawkin-Doktor gerade an ihnen beiden besonders interessiert sein? Aber Drake log nie. Sie hätte gern beim Sicherheitsdienst nachgefragt, aber sie wußte, daß sie das nicht tun konnte. Außerdem wäre das unfair. Drake log wirklich nie.
Und warum sollte Harg Tholan sich nicht über sie erkundigen? Wahrscheinlich hatte er sich über die Familien der anderen Biologen in ähnlicher Weise informieren lassen. Und es war nur natürlich, daß er sich auf diese Art die Wohnung aussuchte, die ihm am angenehmsten erschien.
Und wenn er sich wirklich nur über die Smolletts erkundigt hatte, wie konnte das bewirken, daß Drakes anfängliche unverhohlene Feindseligkeit sich in ein so intensives Interesse verwandelt hatte? Drake wußte zweifellos irgend etwas, das er für sich behielt. Nur der Himmel mochte wissen, über welche Informationen Drake verfügte.
War es möglich, daß interstellare Intrigen gesponnen wur-den? Soviel sie wußte, gab es keinerlei Anzeichen für irgendwelche Mißstimmungen zwischen den fünf intelligenten Rassen der Galaxis. Sie waren zu weit von einander entfernt, als daß feindliche Gesinnungen aufkommen könnten. Außerdem gab es weder in politischer noch in ökonomischer Hinsicht Streitfragen.
Aber das war nur ihre Meinung, und sie war kein Mitglied des Sicherheitsdiensts. Wenn es tatsächlich Konflikte gab, dann drohte Gefahr. Und dann hatte man allen Grund anzunehmen, daß Tholans Mission auf der Erde alles andere als friedlich war. Drake würde das wissen.
Aber hatte Drake innerhalb des Rates im Sicherheitsdienst eine so hohe Stellung, daß er sofort wußte, welche Gefahren sich mit dem Besuch eines Hawkin-Doktors verbinden könnten? Sie hatte immer geglaubt, er verrichte nur eine untergeordnete Tätigkeit in der Kommission. Er hatte nie mehr aus sich gemacht. Und doch .
War er mehr?
Sie zuckte mit den Schultern. Dieser Gedanke erinnerte sie an die Spionageromane und Verkleidungsdramen aus dem zwanzigsten Jahrhundert, als es noch das Geheimnis der Atombombe gegeben hatte. Sie entschied sich für das Verkleidungsdrama. Sie war natürlich kein Polizist wie Drake, und sie wußte nicht, wie wirkliche Polizisten in solchen Angelegenheiten vorgingen. Aber sie wußte, was in den alten Dramen passiert war.
Sie nahm ein Blatt Papier und unterteilte es mit einem Bleistift in zwei Spalten. Über die eine schrieb sie »Harg Tholan«, über die andere »Drake«. Unter Harg Tholan schrieb sie »ehrlich« und setzte nachdenklich drei Fragezeichen dahinter. War er ein Arzt oder ein interstellarer Agent? Welche Informationen hatte das Institut außer seinen eigenen Behauptungen? Hatte ihn Drake deshalb so unerbittlich über die tödliche Hemmung ausgefragt. Hatte er versucht, den Hawkin-Bewohner dazu zu treiben, sich in Widersprüche zu verwikeln?
Ein paar Minuten blieb sie unentschlossen sitzen, dann sprang sie auf, faltete das Papier zusammen, steckte es in die Tasche ihrer kurzen Jacke und verließ ihr Arbeitszimmer. Sie sagte nichts zu den Kollegen, die ihr auf den Korridoren des Instituts begegneten, und sie hinterließ keine Nachricht in der Rezeption, wohin sie ging und wann sie wieder zurückkommen würde.
Sie eilte in den dritten Untergrundbahnschacht hinunter und wartete, bis eine leere Kabine vorbeikam. Die zwei Minuten, die verstrichen, schienen ihr unerträglich lang.
»Medizinische Akademie der Stadt New York«, sagte sie in das Sprachrohr oberhalb des Sitzes. Die Tür der kleinen Kabine schloß sich, und zischend strich die Luft am Fenster vorbei, als das Abteil nach oben jagte.
Die medizinische Akademie der Stadt New York hatte sich innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte in die Höhe und in die Breite ausgedehnt. Die Bibliothek allein nahm einen ganzen Flügel in der dritten Etage ein. Wenn sie all die Bücher, Broschüren und Periodika in der Originalform beherbergen würde und nicht von einigen Mikrofilme angefertigt worden wären, würde selbst das ganze riesige Gebäude nicht genug Platz bieten. Wie Rose wußte, sprach man bereits davon, sich nur auf die Druckwerke der letzten fünf Jahre zu beschränken und nicht auf die des letzten Jahrzehnts, wie es zur Zeit der Fall war.
Rose hatte als Mitglied der Akademie freien Zugang zur Bibliothek. Sie eilte in die Nische, die die Werke über extraterrestrische Medizin enthielt und stellte erleichtert fest, daß gerade niemand anderer dort arbeitete.
Es wäre vielleicht klüger gewesen, die Hilfe eines Bibliothekars in Anspruch zu nehmen, aber sie entschloß sich, darauf zu verzichten. Je geringer die Spur war, die sie hinterließ, desto geringer war die Gefahr, daß Drake sie aufspürte.
Und so ging sie ohne Führer an den Regalen entlang und strich mit dem Finger über die Titel. Die meisten Bücher waren in englisch geschrieben, einige auch in deutsch und russisch. Ironischerweise gab es keine, die in extraterrestrischen Symbolen verfaßt waren. Die Originale befanden sich in einem anderen Raum und waren nur für amtliche Übersetzer zugänglich.
Ihr Finger hielt inne. Sie hatte gefunden, was sie gesucht hatte.
Sie nahm ein halbes Dutzend Bände aus dem Regal und breitete sie auf einem kleinen dunklen Tisch aus. Sie drückte auf den Lichtschalter und schlug den ersten Band auf. Er trug den Titel »Studien über die Hemmung«. Sie blätterte ihn durch und widmete sich dann dem Verzeichnis der Autoren.
Sie las den Namen Harg Tholan.
Sie prägte sich alle Angaben ein, die sie über ihn finden konnte, dann kehrte sie zu den Regalen zurück, um nach Übersetzungen von Originalwerken Tholans zu suchen.
Sie verbrachte mehr als zwei Stunden in der Akademie. Als sie fertig war, wußte sie, daß es einen Hawkin-Doktor namens Harg Tholan gab und daß er ein Experte auf dem Gebiet der tödlichen Hemmung war. Er stand in Verbindung mit der Hawkin-Forschungsorganisation, mit der das Institut Kontakt aufgenommen hatte. Natürlich konnte der Harg Tholan, den sie kannte, sich ganz einfach als Arzt ausgeben. Aber warum sollte er das tun?
Sie nahm das Blatt Papier aus der Tasche und schrieb hinter das Wort »ehrlich« mit den drei Fragezeichen ein »ja« in Großbuchstaben. Danach kehrte sie in das Institut zurück und saß um vier Uhr nachmittags wieder an ihrem Schreibtisch. Sie teilte der Telefonistin mit, daß sie keine Anrufe beantworten würde, und schloß die Tür ab.
In die Spalte »Harg Tholan« trug sie nun zwei Fragen ein: »Warum kam Harg Tholan allein auf die Erde?« Sie ließ genug Platz nach dieser Frage. Und dann: »Warum interessiert er sich für den Vermißtensuchdienst?«
Sicher war es glaubhaft, daß der Hawkin-Doktor in erster Linie auf die Erde gekommen war, um Studien über die tödliche Hemmung zu betreiben. Sie hatte in der Akademie gelesen, daß die Bekämpfung dieser Krankheit die wichtigste medizinische Aufgabe auf dem Hawkin-Planeten war. Sie wurde dort mehr gefürchtet als der Krebs auf der Erde. Aber wenn die Hawkin-Ärzte glaubten, die Antwort auf ihre ungelösten Fragen auf der Erde zu finden, warum schickten sie dann nicht eine ganze Forschungsexpedition? War es Argwohn und Mißtrauen ihrerseits, daß sie nur einen einzigen Forscher entsandten?