»Was wollen Sie?« fragte Tholan.
»Ich möchte, daß Sie mir einige Fragen beantworten«, sagte Drake.
»Mit einem Revolver in der Hand? Wenn Sie so unhöflich sind, werde ich auf Ihre Fragen nicht reagieren.«
»Sie werden nicht nur reagieren, Sie werden sogar Ihr Leben retten müssen.«
»Das ist mir unter diesen Umständen gleichgültig. Es tut mir leid, Mr. Smollett, daß man auf der Erde nicht weiß, wie man sich einem Gast gegenüber zu benehmen hat.«
»Sie sind nicht mein Gast, Dr. Tholan«, erwiderte Drake. »Denn Sie haben mein Haus unter Vorspiegelung falscher Tatsachen betreten. Sie hatten natürlich Ihre Gründe dafür. Sie hatten vor, mich für Ihre Zwecke zu benutzen. Und ich mache mir keine Gewissensbisse daraus, den Spieß jetzt umzudrehen.«
»Sie hätten besser gleich schießen sollen. Sie verschwenden nur Ihre Zeit.«
»Sind Sie so überzeugt davon, daß Sie meine Fragen nicht beantworten werden? Das allein ist schon verdächtig. Anscheinend verlieren Sie lieber Ihr Leben, bevor Sie gewisse Geheimnisse verraten.«
»Ich halte die Prinzipien der Höflichkeit für sehr wichtig. Sie als Erdenmensch verstehen das vielleicht nicht.«
»Möglicherweise nicht. Aber eines weiß ich. Obwohl ich ein Erdenbewohner bin.« Plötzlich sprang Drake vor, schneller, als Rose aufschreien konnte, schneller, als der Hawkin-Bewohner mit seinen Gliedmaßen in Verbindung treten konnte. Als Drake zurückwich, hielt er den Schlauch von Tholans Zyanidbehälter in der Hand. Im Winkel von Tholans großem Mund, wo das Ende des Schlauches befestigt gewesen war, glitzerte ein Tropfen farbloser Flüssigkeit, sickerte langsam in einer Furche der groben Haut herab und verdichtete sich zu einem braunen, gallertartigen Kügelchen, als er oxydierte.
Drake riß an dem Schlauch, und der zylindrische Behälter löste sich von der Hüfte des Hawkin-Bewohners. Er schob den Hebel zurück, der das nadellochgroße Ventil des Behälters regulierte, und das leise Zischen verstummte.
»Ich bezweifle, daß genug Zyanid entwichen ist, um uns in
Gefahr zu bringen«, sagte Drake. »Und ich hoffe, Sie wissen, was mit Ihnen passiert, wenn Sie meine Fragen nicht beantworten. Und ich rate Ihnen, mich zu überzeugen, daß Sie die Wahrheit sagen.«
»Geben Sie mir meinen Zylinder zurück«, sagte Tholan langsam. »Wenn Sie das nicht tun, werde ich Sie angreifen, und dann werden Sie mich töten.«
Drake trat einen Schritt zurück.
»Keineswegs. Wenn Sie mich angreifen, schieße ich Sie in die Beine. Wenn es notwendig ist, werden Sie alle vier verlieren. Aber Sie werden noch immer leben, und es wird schrecklich für Sie sein. Sie werden leben, um an Zyanidmangel zu sterben. Das wird ein sehr unangenehmer Tod sein. Ich bin ein Erdenbewohner, und ich kann mir nicht genau vorstellen, wie grauenvoll das sein wird. Aber Sie wissen es, nicht wahr?«
Der Mund des Hawkin-Bewohners stand weit offen. Etwas Gelbgrünliches zitterte auf seiner Zunge. Rose wollte nach vorn stürzen, wollte schreien: Gib ihm den Zylinder zurück! Aber kein Laut kam über ihre Lippen. Sie konnte nicht einmal den Kopf bewegen.
»Sie haben etwa eine Stunde Zeit, bevor die Wirkung unwiderruflich sein wird«, sagte Drake. »Sprechen Sie schnell, Dr. Tholan, dann bekommen Sie Ihren Zylinder zurück.«
»Und danach ...?« fragte der Hawkin-Bewohner.
»Was kümmert Sie das? Wenn ich Sie auch töten sollte, so wird es ein schöner Tod sein. Jedenfalls werden Sie nicht an Zyanidmangel sterben.«
Langsam schien die Kraft aus Tholans Körper zu strömen. Seine Stimme wurde kehlig, und die Worte platzten heraus, als hätte er nicht mehr die Energie, akzentfrei englisch zu sprechen.
»Was wollen Sie wissen?« fragte er, und seine Blicke hingen an dem Zylinder in Drakes Hand.
Drake schwang den Behälter absichtlich hin und her, quälend langsam, und die Augen der Kreatur folgten jeder Bewegung. Hin und her .
»Welche Theorien haben Sie über die Entstehung der tödlichen Hemmung entwickelt?« fragte Drake. »Warum kamen Sie wirklich auf die Erde? Warum interessieren Sie sich für den Vermißtensuchdienst?«
Rose hielt den Atem an. Diese Fragen hätte auch sie gestellt. Natürlich nicht auf diese Weise, aber in Drakes Beruf mußten Freundlichkeit und Menschlichkeit hinter der Notwendigkeit zurückstehen. Immer wieder redete sie sich das ein, um Drake nicht hassen zu müssen, weil er Tholan zu grausam behandelte.
»Es würde länger als die eine Stunde, die mir noch bleibt, dauern, um Ihre Fragen exakt zu beantworten«, sagte der Hawkin-Bewohner. »Sie beschämen mich bitter, indem Sie mich zwingen, unter Druck zu antworten. Auf meinem Planeten wäre Ihnen das unter keinen Umständen gelungen. Nur hier, auf diesem schrecklichen Stern, konnte es geschehen, daß man mir mein Zyanid raubte.«
»Sie verschwenden Ihre kostbare Stunde, Dr. Tholan.«
»Vielleicht hätte ich Ihnen alles freiwillig gesagt, Mr. Smol-lett. Denn ich brauchte Ihre Hilfe. Deshalb bin ich in Ihr Haus gekommen.«
»Sie beantworten immer noch nicht meine Fragen.«
»Ich werde sie jetzt beantworten. Schon seit Jahren habe ich zusätzlich zu meiner regulären wissenschaftlichen Arbeit privat die Zellen meiner Patienten untersucht, die an tödlicher Hemmung litten. Ich war gezwungen, heimlich und ohne Assistenten zu arbeiten, da meine Methode, die Körper meiner Patienten zu untersuchen, von meinen Leuten nicht gebilligt wurde. Ihre Gesellschaft würde zum Beispiel in ähnlicher Weise die Vivisektion ablehnen. Aus diesem Grund konnte ich die Ergebnisse meiner Untersuchungen meinen Kollegen nicht mitteilen, bevor ich die Bestätigung meiner Theorie auf der Erde gefunden hatte.«
»Wie lauten Ihre Theorien?« fragte Drake. Seine Augen glühten wie im Fieber.
»Je weiter meine Studien fortschritten, desto klarer wurde mir, daß die bisherige Forschung auf dem Gebiet der tödlichen Hemmung einen falschen Weg gegangen war. Das Geheimnis ließ sich nicht physisch lösen. Die tödliche Hemmung ist eine Geisteskrankheit.«
»Sicher, Dr. Tholan«, unterbrach ihn Rose. »Sie ist nicht psychosomatisch.«
Ein dünner, grauer, durchscheinender Film hatte sich auf Tholans Augäpfeln gebildet. Er sah Drake und Rose nicht mehr an.
»Nein, Mrs. Smollett«, sagte er. »Sie ist nicht psychosomatisch. Es handelt sich um eine echte Geisteskrankheit, eine Infektion des Geistes. Der Geist meiner Patienten war gespalten. Neben dem Geist, der offensichtlich zu ihnen gehörte, wirkte ein anderer, ein fremder Geist. Ich habe auch Patienten anderer Rassen, die an tödlicher Hemmung erkrankt waren, untersucht und konnte dasselbe feststellen. Kurz gesagt, es gibt nicht nur fünf intelligente Wesen in der Galaxis, sondern sechs. Und die sechsten sind Parasiten.«
»Das ist doch verrückt - das ist unmöglich«, sagte Rose. »Sie müssen sich irren, Dr. Tholan.«
»Ich irre mich nicht. Bevor ich auf die Erde kam, dachte ich, ich könnte mich vielleicht geirrt haben. Aber mein Aufenthalt im Institut und meine Nachforschungen im Büro des Vermiß-tensuchdiensts überzeugten mich, daß kein Irrtum möglich ist. Warum sollen keine intelligenten Parasiten existieren? Solche Intelligenzen würden im Zustand eines Fossils oder sogar eines künstlichen Produkts verbleiben, denn ihre einzige Funktion ist es, auf irgendeine Weise ihre Nahrung aus den geistigen Aktivitäten anderer Wesen zu beziehen. Man kann sich vorstellen, daß ein solcher Parasit im Lauf von Millionen Jahren vielleicht alle körperlichen Teile bis auf die absolut notwendi-gen abgelegt hat, wie der Bandwurm, einer der körperlichen Parasiten auf der Erde, alle Funktionen bis auf die der Fortpflanzung verloren hat. Im Fall der parasitären Intelligenzen können vielleicht alle körperlichen Attribute abgelegt worden sein. Nichts als reiner Geist bleibt übrig, der in einer Weise, die wir uns nicht vorstellen können, in einem fremden Geist lebt. Vielleicht im Geist der Erdenbewohner.«