Und traurig fügte er hinzu: »Und wieder werden Jahrtausende mühevoller Arbeit in ein Nichts aufgehen. Morgen wird es auf ganz Lagash keine einzige Stadt mehr geben.«
Theremon gewann einen Teil seines geistigen Gleichgewichts wieder.
»Das wird nicht geschehen. Ich verstehe noch immer nicht, daß ich verrückt werden soll, nur weil keine Sonne mehr am Himmel steht. Aber sogar, wenn das wirklich eintreffen sollte und wenn auch alle anderen Menschen wahnsinnig werden, warum werden dann die Städte zerstört? Werden wir sie zertrümmern?«
Verärgert starrte Sheerin ihn an.
»Wenn Sie sich in völliger Dunkelheit befinden, was wünschen Sie sich dann sehnlicher als Licht? Licht!«
»Und?«
»Und wie bekommen Sie Licht?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Theremon mit ausdruckslosem Gesicht.
»Was ist der einzige Weg, um Licht zu erhalten, wenn die Sonne verschwunden ist?«
»Wie soll ich das wissen?«
Sie standen voreinander, das Gesicht des einen dicht vor dem des anderen.
»Sie verbrennen etwas, Mister«, sagte Sheerin. »Haben Sie schon einmal einen Waldbrand gesehen? Haben Sie schon einmal gezeltet und Fleisch über einem Campfeuer gekocht? Brennendes Holz spendet nicht nur Wärme, müssen Sie wissen. Es spendet auch Licht, und die Menschen wissen das. Und wenn es dunkel ist, wollen sie Licht haben. Und das werden sie auch bekommen.«
»Sie werden also Holz anzünden?«
»Sie werden alles anzünden, was sie nur finden. Sie wollen Licht haben. Sie müssen irgend etwas verbrennen. Holz werden sie nicht gleich zur Hand haben, also werden sie sich auf das Nächstliegende stürzen. Sie werden ihr Licht haben, und die Städte werden in Flammen aufgehen.«
Wütend starrten sie sich in die Augen, als ob es sich um eine persönliche Meinungsverschiedenheit handelte, als ob es darum ging, wer den stärkeren Willen hat. Schließlich wandte Theremon sich wortlos ab. Sein Atem ging rasch und heftig, und er bemerkte den plötzlichen Lärm kaum, der durch die geschlossene Tür aus dem Nebenraum drang.
Sheerin begann zu sprechen, und es kostete ihn einige Anstrengung, seine Stimme nüchtern klingen zu lassen.
»Ich glaube, ich habe Yimots Stimme gehört. Wahrscheinlich sind er und Faro zurückgekehrt. Gehen wir und fragen wir sie, was sie aufgehalten hat.«
»In Ordnung«, flüsterte Theremon. Er machte einen tiefen Atemzug, und sein Körper schüttelte sich. Die Spannung war gebrochen.
Im Nebenzimmer tobte tumultartiger Lärm. Die Mitglieder des Stabes drängten sich um die beiden Männer, die gerade aus ihren Mänteln schlüpften und versuchten, das Fragengewirr abzuwehren, das über sie hereinbrach.
Aton bahnte sich einen Weg durch die Menge und blickte die beiden Neuankömmlinge verärgert an.
»Habt ihr bemerkt, daß wir nur noch eine halbe Stunde Zeit haben? Wo seid ihr gewesen?«
Faro 24 setzte sich und rieb sich die Hände. Seine Wangen waren gerötet von der Kälte, die draußen herrschte.
»Yimot und ich haben soeben ein kleines verrücktes Experiment beendet, das wir uns selbst ausgedacht haben. Wir haben versucht, ob wir ein Arrangement konstruieren können, mit dessen Hilfe wir das Auftreten der Dunkelheit und der Sterne simulieren. Es wäre ein Vorteil, wenn man schon vorher feststellen kann, wie das aussieht.«
Verwirrtes Gemurmel erhob sich unter den Zuhörern und plötzlich trat ein interessierter Ausdruck in Atons Augen.
»Davon war noch nie die Rede. Wie seid ihr denn darauf gekommen?«
»Nun«, sagte Faro, »Yimot und ich sind schon vor einiger Zeit auf die Idee gekommen, und wir haben in unserer Freizeit daran gearbeitet. Yimot kannte ein Haus mit einem kuppelför-migen Dach unten in der Stadt. Ich glaube, es wurde früher als Museum benutzt. Jedenfalls, wir kauften es, und ...«
»Woher habt ihr das Geld dazu genommen?« unterbrach ihn Aton mit gebieterischer Stimme.
»Von unseren Bankkonten«, entgegnete Yimot 70. »Es kostete zweitausend Kreditpapiere.« Verteidigend setzte er hinzu: »Was soll das? Morgen sind zweitausend Kreditpapiere nichts weiter als zweitausend Blatt Papier. Das ist alles.«
»Sicher«, stimmte Faro zu. »Wir kauften also das Haus und kleideten es von oben bis unten mit schwarzem Samt aus, um möglichst vollkommene Dunkelheit zu erzielen. Dann bohrten wir kleine Löcher in die Decke und durch das Dach und verschlossen sie mit kleinen Metalldeckeln, die durch einen Schalter alle gleichzeitig geöffnet und geschlossen werden können. Das haben wir natürlich nicht alles allein gemacht. Wir zogen einen Zimmermann, einen Elektriker und ein paar andere Handwerker zu Rate. Geld spielte ja keine Rolle mehr. Das Wichtigste war, daß das Licht durch diese Löcher im Dach schien und wir auf diese Weise einen sternenähnlichen Effekt erreichten.«
Eine atemlose Pause folgte. Dann sagte Aton steif: »Ihr hattet kein Recht, das privat zu machen .«
Faro sah verlegen aus.
»Sicher, Sir, ich weiß. Aber um es frei herauszusagen, Yimot und ich dachten, daß das Experiment einigermaßen gefährlich sei. Wenn der angestrebte Effekt wirklich eintraf, mußten wir ja befürchten, wahnsinnig zu werden. Nach Sheerins Aussage stand das immerhin im Bereich der Möglichkeit, und dieses Risiko wollten wir allein tragen. Wenn wir unseren klaren Kopf behalten sollten, hätten wir natürlich eine Methode zu entwickeln versucht, wie man eine Immunität den wirklichen Gegebenheiten gegenüber erzielen könnte. Dann hätten wir sie alle mit den Ergebnissen unseres Versuchs bekannt gemacht. Aber die Sache klappte nicht so ganz .«
»Warum nicht? Was ist geschehen?«
»Wir schlossen uns ein«, begann Yimot zu erzählen, »und bemühten uns, unsere Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es war ein recht kribbliges Gefühl, denn durch die totale Finsternis meinten wir, die Decke müsse auf uns herabfallen und die Wände würden immer näher rücken. Aber wir konnten das überwinden und betätigten den Schalter. Die Deckel öffneten sich, und über die ganze Decke verstreut glitzerten winzige Lichtpunkte .«
»Und?«
»Nun, eh, nichts. Das ist es ja gerade. Es passierte überhaupt nichts. Es war ganz einfach ein Dach mit Löchern darin, und genauso sah es auch aus. Wir haben es immer wieder von neuem versucht. Deshalb haben wir uns auch so lange aufgehalten. Aber es war immer wieder dasselbe.«
Erschrockenes Schweigen folgte, und alle Augen wandten sich Sheerin zu, der reglos, mit offenem Mund dasaß.
Theremon fand als erster die Sprache wieder.
»Sie wissen doch, daß damit Ihre ganze Theorie ins Wanken gerät, nicht wahr, Sheerin?« Er grinste erleichtert.
Aber Sheerin hob die Hand.
»Jetzt wartet mal. Laßt mich nachdenken.« Nach wenigen Sekunden schnippte er mit den Fingern, und als er den Kopf hob, war weder Überraschung noch Unsicherheit in seinen Augen. »Natürlich .«
Er konnte nicht mehr zu Ende sprechen. Irgendwo oberhalb ihrer Köpfe ertönte ein schrilles Klirren, und Beenay sprang auf und rannte zur Treppe.
»Was zum Teufel .«
Die anderen folgten ihm.
Dann geschah alles sehr schnell. Oben in der Kuppel warf Beenay einen entsetzten Blick auf die zerschmetterten photographischen Platten und den Mann, der sich darüber beugte. Dann stürzte er sich wütend auf den Eindringling und packte ihn am Kragen. Eine wilde Prügelei setzte ein, und als auch die anderen Mitglieder des Stabes sich in den Kampf warfen, war der Fremde bald unter einem halben Dutzend zorniger Männer begraben.
Aton traf als letzter ein.
»Laßt ihn los«, befahl er keuchend.
Widerwillig wichen die Männer zurück, und schwer atmend rappelte sich der Fremde auf. Seine Kleider waren zerrissen, und seine Stirn blutete. Sein kurzer, lockiger blonder Bart war sorgfältig nach der Mode der Kultisten gestutzt.
Wieder packte Beenay den Mann am Kragen und schüttelte ihn wütend hin und her.