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Ein dumpfes Brausen ertönte. Drüben am Flughafen in Schwechat startet eine Maschine, dachte Parker.

Im nächsten Moment sah er über die Allee einen blauen Mercedes näherkommen. Parker blickte durch das Zielfernrohr. Die Nummerntafel stimmte. Na also, dachte er. Geht ja großartig. Zart hob er die Waffe an. Millimeter um Millimeter wanderte der Lauf der ›Springfield‹ nun so, daß Parker den linken vorderen Schlag des Mercedes stets im Fadenkreuz des Fernrohres hatte. Mit der Engelszehe als Drehpunkt ließ die Waffe sich ganz leicht führen.

82

»Ich sehe Frau Barry nicht«, sagte Manuel, der den Wagen zwischen dem vierten und fünften Weg in die Gruppe 74 hinein ausrollen ließ. Er blickte flüchtig zu dem entfernten Kreuz aus Gußeisen auf einem Grabhügel in der Abteilung F 74, das er, gemeinsam mit Irene, vor zwölf Tagen – vor zwölf Tagen erst! – in die hartgefrorene Erde gerammt hatte.

»Ich sehe sie auch nicht«, sagte Irene. »Was bedeutet das nun wieder? Verstehst du das?«

Manuel hatte den fünften Seitenweg erreicht und hielt an.

»Vielleicht wird sie von einem Baum verdeckt«, sagte er. »Warte einen Moment.« Damit öffnete er den Schlag an seiner Seite und stieg aus. Das Geräusch der anfliegenden Maschine war sehr laut geworden. Die kreischenden Krähen verstummten, die Luft begann zu zittern.

»Frau Barry!« schrie Manuel, vortretend und sich umblickend. Die Pelzmütze hatte er im Wagen liegen lassen. Näher und näher kam die Boeing. Nun fielen schon Schneeklumpen von Ästen und Grabsteinen.

»Frau Barry! Frau Barry!«

Das waren seine letzten Worte. Im nächsten Augenblick sah Irene, die im Wagen geblieben war, Manuel zwei Schritte nach vorn stolpern und dann fallen. Von jähem Entsetzen gepackt beobachtete sie, daß aus der rechten Schläfe seines Kopfes plötzlich Blut über die Eiskruste der Allee schoß, über den Schnee.

»Manuel!« schrie Irene.

Sie sprang ins Freie und rannte zu ihm. Die Blutlache um seinen Schädel wurde rasend schnell größer. Irene kniete neben dem Gestürzten nieder. Ihre Stiefel, ihr Mantel, ihre Hände färbten sich rot, als sie sich verzweifelt bemühte, Manuel auf den Rücken zu drehen. Aus einer großen Wunde an der rechten Stirnseite des Leblosen strömte Blut, Blut, gräßlich viel Blut.

Irene war es unmöglich, aufzuspringen, davonzurennen, zu schreien. Zu sehr hielt das Grauen sie gepackt.

»Manuel«, stammelte sie. »Mein Gott, Manuel …«

Die Maschine heulte und kreischte. Sie jaulte und donnerte und schien jeden Moment explodieren zu wollen. Ein Schatten streifte Irene gleich dem des Todesengels. Unendlich langsam hob sie den Kopf. Direkt über der Allee flog nun, in einem strahlend blauen Himmel, die Boeing, vier Rauchspuren ihrer Düsenaggregate hinter sich herziehend. Der Höllenlärm erreichte seinen Höhepunkt. Die Erde bebte. Irene senkte den Kopf, zögernd, ruckweise. Dabei erblickte sie mit tränenerfüllten Augen vor den violetten, schwarzen und grauen Wolkenwänden des abziehenden Gewitters, das noch im Osten der Stadt wütete, sehr hoch, sehr weit gespannt, schimmernd und scheinbar zum Greifen nah, einen Regenbogen.

Fußnoten

1 Es war niemals die Stimme von Paul Steinfeld. Recherchen des Verfassers beim Chief Librarian der British Broadcasting Corporation haben ergeben, daß alle ›Hirnschal‹-Briefe von einem geflüchteten deutschen Schauspieler verlesen wurden. Mit der Stimme dieses Schauspielers, der auch ständig als Nachrichtensprecher arbeitete, verwechselte Valerie Steinfeld beharrlich all die Kriegsjahre hindurch die Stimme ihres Mannes, die sie, seltsam genug, kein einziges Mal erkannte. Spezialisten nannten dem Verfasser zahlreiche einleuchtende Gründe technischer und psychologischer Art für dieses Phänomen.

Über Johannes Mario Simmel

Johannes Mario Simmel, 1924 in Wien geboren, gehörte mit seinen brillant erzählten zeit- und gesellschaftskritischen Romanen und Kinderbüchern zu den international erfolgreichsten Autoren der Gegenwarts. Seine Bücher erscheinen in 40 Ländern, ihre Auflage nähert sich der 73-Millionen-Grenze. Der Träger des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse wurde 1991 von den Vereinten Nationen mit dem Award of Excellence der Society of Writers ausgezeichnet. »Simmel hat wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor einen fabelhaften Blick für Themen, Probleme, Motive«, sagte Marcel Reich-Ranicki über den Schriftsteller.

Johannes Mario Simmel verstarb am 1. Januar 2009 84-jährig in der Schweiz.

Über dieses Buch

Mitreißend und herzbewegend zugleich erzählt Johannes Mario Simmel hier eine große Geschichte um Schuld und Sühne. Sie ist viel mehr als ein Roman von hochbrisanter Thematik, atemloser Spannung, harter Realistik und makabrem Humor. Simmel gelingt die Schilderung unvergeßlicher Gestalten, die Deutung ewig menschlicher Tragödien, aber, als Wichtigstes, der Nachweis, daß nichts ohne Sinn und zufällig geschieht, dass jeder von uns hineinverstrickt ist in das magisch geknüfte Webmuster des Lebens und darum verantwortlich selbst noch für den Geringsten unter seinen Mitmenschen.

Impressum

Copyright © 1975 bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Copyright © 2010 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Fritz Blankenhorn

Digitale Satzrekonstruktion: pagina GmbH, Tübingen

ISBN 978-3-426-40408-9

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