Manuel Aranda fühlte, wie ihn eine Welle der Benommenheit überkam. Dieses Schwindelgefühl empfand er immer wieder, seit er in Wien war. Es ging stets rasch vorbei. Aber es vermittelte Aranda jedesmal das Gefühl größter Verlassenheit, Hilflosigkeit und ohnmächtiger Wut. Er kam sich vor wie ein Mensch nahe dem Ausbruch einer schweren Krankheit. Er mußte an einen Irrgarten denken, in den er weiter und weiter hineintaumelte, mit jeder neuen Minute, wie in einen endlosen Tunnel, in immer größere Finsternis und Kälte. Es war das Geheimnis, das ihn schwach und elend machte, dachte er, dieses Geheimnis …
Er wandte den Kopf, wobei sich sein Schwindelgefühl kurz, aber jäh verstärkte, und sah den blauen Mercedes, den er nach seiner Ankunft in Wien gemietet hatte und der wenige Schritte von ihm entfernt parkte. Rechts vom Haupttor, an der Friedhofsmauer, stand eine lange Reihe sauberer kleiner Hütten. Vor ihnen waren Kränze mit Natur- und Kunstblumen ausgebreitet, Gebinde, alle Arten von Kerzen, Kerzenhaltern, Windgläsern, Kupferkannen und Kupfertöpfen. Jenseits der Straße, in dunstverhangenen Feldern, lagen Gärtnereien. Den Besitzern gehörten wohl diese Geschäfte, die trotz Kälte und Winter geöffnet waren. Vermummte Männer und Frauen standen davor.
Der Portier erboste sich immer noch am Telefon.
»Eine Affenschande ist das! Der Herr wartet! Dann suchen Sie die Karteikarte. Die kann ja nicht verschwunden sein!«
Rasselnd, mit kreischenden Bremsen, kam nun ein Straßenbahnzug aus der Gegenrichtung vor dem Haupttor zum Stehen. Aranda las, was auf den Reklametafeln stand, welche Triebwagen und Anhänger an ihren Dächern trugen:
SCHWECHATER – RECHT HAT ER!
Die Bahn setzte sich ratternd wieder in Bewegung. Was ist SCHWECHATER? überlegte Aranda. Wie weit von Buenos Aires bin ich entfernt? Fliegen Sie zurück, hat der Hofrat gesagt. Aber ich fliege nicht zurück. Auf keinen Fall. Das habe ich ihm klargemacht. Da gab er dann nach. Ich muß wissen, wie es geschehen ist, warum sie es getan hat, wer ihr den Auftrag …
»Sie, Herr!«
Aranda drehte sich schnell um, und da waren wieder das Schwindelgefühl und die Angst, zu stürzen. Der alte, gutmütige Portier stand im Eingang seiner Loge.
»Ich hab Sie schon zweimal …« Er schluckte. »Ist Ihnen nicht gut? Sie schauen so blaß aus. Wollen Sie einen Schnaps?«
»Nein, danke. Nun?«
»Jetzt weiß ich es.« Der Pförtner blinzelte, seine geröteten Augen tränten. »Die Frau Steinfeld liegt im Abschnitt F 74. Wie sie begraben worden ist, vorgestern, da haben sie da sicherlich den Schnee weggeschaufelt, daß man hat gehen können. Aber was ist inzwischen heruntergekommen! Allein letzte Nacht! Da wird alles wieder dick zugeschneit sein, ganz bestimmt! F 74, das liegt aber ganz weit draußen, schon fast am anderen Ende. Laufen tun Sie da glatt eine halbe Stunde.«
»Ich habe einen Wagen. Darf man …«
»Nur auf den Hauptalleen! Kostet aber fünf Schilling.«
Aranda legte einen 20-Schilling-Schein in die ausgestreckte Hand des Mannes.
»Ich danke, Herr Baron!« Der Pförtner riß einen Zettel von einem Block. »Hinten sind die Gruppen aufgedruckt.« Er sprach Aranda jetzt direkt ins Gesicht. Also doch kein Bier in der Flasche, dachte dieser und trat etwas zurück. »Wenn Sie bei der 74er ankommen – entschuldigen Sie einen Moment, bittschön!« Des Pförtners Gesicht hatte sich plötzlich erhellt, während er an Aranda vorbeiblickte. Seine Stimme wurde heiter: »Endlich! Ich hab mir direkt schon Sorgen gemacht!«
»Zuerst konnte ich nicht rechtzeitig weg, und dann ist zwei Kilometer von hier plötzlich mein Wagen stehengeblieben«, sagte eine weibliche Stimme.
Manuel Aranda wandte den Kopf diesmal langsamer, um das Schwindelgefühl zu vermeiden. Hinter ihm stand eine Frau von etwa dreißig Jahren und seiner Größe. Aranda sah ein ebenmäßiges, ernstes Gesicht, eine kleine Nase und einen schönen Mund. Das Haar, das unter einem fest geknüpften Kopftuch hervorschaute, war kastanienbraun. Die junge Frau hatte zu viel Puder und Schminke aufgelegt. Sie trug eine sehr große dunkle Brille mit runden Fassungen. Ihre Augen blieben dadurch unsichtbar. Stiefel und Mantel waren aus Seehundfell.
»Guten Tag«, sagte die junge Frau. Aranda verbeugte sich stumm.
»Was war denn mit dem Auto?« forschte der Pförtner. Die junge Frau erfreute sich seiner Sympathie. Er empfand Verbundenheit mit ihr. Vor zwei Tagen war sie, unter einem Schwächeanfall taumelnd, in seine Loge gekommen und hatte um ein Glas Wasser gebeten. Sie wollte irgendein stärkendes Medikament schlucken, das sie bei sich trug, und während sie danach ein paar Minuten wartete, bis ihr besser wurde, hatte sie sich mit ihm unterhalten.
»Die Benzinpumpe«, antwortete sie jetzt. »Ihre Membran ist brüchig geworden in der Kälte. Also mußte ich den Wagen abschleppen lassen. Das dauert vielleicht eine Ewigkeit, bis jemand hier herauskommt! Dann habe ich die Elektrische genommen.« Die junge Frau hob die Schultern und wies mit dem Kinn zur anderen Straßenseite. »Aber jetzt hat der Steinmetz drüben geschlossen. Auf einer Tafel steht, man soll hier nachfragen.«
Der Rotnasige dienerte eifrig.
»Hat in die Stadt müssen, der Herr Ebelseder. Aber hat es mir herübergebracht für den Fall, daß Sie doch noch kommen. Bezahlt haben Sie es schon, sagt er.« Der Pförtner stockte. »Ja, nur zum Tragen ist es doch viel zu schwer – den weiten Weg, meine ich.«
»Ich nehme ein Taxi. Da drüben stehen ein paar.«
»Das geht natürlich …« Des Pförtners zerfurchtes Gesicht erhellte sich neuerlich. »Oder aber der Herr ist so freundlich und nimmt Sie mit. Der will nämlich auch hin.«
»Wohin?« Die Stimme der jungen Frau klang plötzlich brüchig.
»Na, zu Ihrem Grab! Kurios ist das, also wirklich! Kennen sich die Herrschaften vielleicht?«
Die junge Frau musterte Manuel Aranda durch die dunklen Brillengläser. »Nein«, sagte sie, doch ein banger Ton schwang in ihrer Stimme. Plötzlich fühlte Aranda Erregung und Neugier.
»Sie sind Irene Waldegg«, sagte er.
»Woher wissen …« Sie brach ab. Er sah, wie sich der schöne Mund hart schloß.
»Man hat mir Fotos gezeigt.«
»Die Polizei?«
»Wer sonst«, antwortete er kurz.
Sie starrte ihn an.
Er sagte aggressiv: »Ich bin Manuel Aranda. Der Name ist Ihnen doch bekannt?«
»Ja«, sagte Irene Waldegg. Danach sahen sie einander an wie Feinde. Dem Pförtner entging das.
»Da haben wir es!« freute er sich. »Jetzt kennen die Herrschaften sich doch! Ich hab das Ding drinnen. Ich …«
Dreimal nacheinander, kurz und schnell, ertönte ein Hupsignal. Vor der Einfahrt zum Friedhof hielt ein großer, weißer Lincoln mit blaugetönten Fensterscheiben. Der Mann am Steuer hatte ein viereckiges Gesicht, einen breiten Unterkiefer, Sommersprossen, und sein blondes Haar war zu einer Igelfrisur geschoren. Über die Stirn lief eine kurze, wulstige Narbe. Der Mann trug einen rostbraunen Dufflecoat. Er winkte ungeduldig den Pförtner herbei und hielt ihm einen Hundertschillingschein hin.
»Schnell«, sagte der Igelkopf. »Machen Sie schnell!« Er sprach mit amerikanischem Akzent. Seine Zähne waren groß, weiß und unregelmäßig, er biß auf einem Kaugummi herum, während er wartete.
Irene Waldegg und Manuel Aranda sahen einander immer noch an. Menschen gingen an ihnen vorbei, sie bemerkten es nicht. Ein Flugzeug dröhnte über ihre Köpfe hinweg, niedrig, knapp nach dem Start schon in den Wolken, mit tobenden Düsen. Die Luft zitterte. Sie sahen sich an, der junge Mann und die junge Frau. Der Lärm ließ nach. Die Frau sagte etwas.
»Wie bitte?« Er hatte nicht verstanden.
Sie wiederholte: »Ein seltsamer Ort für ein Zusammentreffen.«
»Ich habe ihn nicht gewählt.«
»Ich auch nicht«, sagte Irene Waldegg, und ihre Lippen zuckten plötzlich, als wollte sie weinen.
»Aber natürlich wußten Sie, daß ich in Wien bin.«
»Natürlich. Schauen Sie mich nicht so an!« rief sie erregt. »Ich habe keine Schuld daran!«