»Was weiß ich?« sagte Manuel Aranda.
»Was soll das heißen?« Ihre Stimme hob sich empört.
»Das soll heißen, daß ich gar nichts weiß«, antwortete er.
Irene Waldegg fragte heftig: »Warum haben Sie mich nicht angerufen? Warum sind Sie nicht zu mir gekommen? Wie lange halten Sie sich schon in Wien auf?«
»Zwei Tage.«
»Also! Warum nicht?«
»Ich hatte viel zu tun, um die Leiche freizubekommen. So viel Formalitäten. Ich habe noch keine Zeit gefunden.«
Endlich hatte der Pförtner gewechselt. Der Mann am Steuer des weißen Lincolns trat auf das Gaspedal. Sein Wagen schoß mit wimmernden Pneus in den Friedhof hinein.
»Zwölf Kilometer Höchstgeschwindigkeit!« schrie ihm der Pförtner empört nach. Er kam zurück. »Leute gibt’s!« knurrte er. »Und keinen Groschen Trinkgeld. So, jetzt hol ich es Ihnen aber endlich, Fräulein.« Er verschwand in seiner Loge.
»Keine Zeit«, sagte die Frau mit den Seehundstiefeln und dem Seehundmantel bitter. »Aber Zeit, hier herauszukommen, die haben Sie.«
»Ich will das Grab sehen.«
»Warum?«
»Weil …« Er brach ab, verspürte wieder Schwäche, Einsamkeit, Trauer.
»Ich will jetzt alles sehen, was damit zusammenhängt. Ich will jetzt mit allen Menschen reden, mit allen, die damit zu tun hatten.«
»Nur mit mir nicht!« Irene Waldeggs Stimme klang aggressiv.
»Ich wäre auch zu Ihnen gekommen«, antwortete er ebenso aggressiv. »Verlassen Sie sich darauf!«
»Ich bin keine Verbrecherin«, sagte sie laut. »Sie waren bei der Polizei. Bei Hofrat Groll.«
»Ja. Und?«
»Und sagt Groll, daß ich eine Verbrecherin bin?«
»Nein.«
»Daß ich Schuld daran habe?«
»Nein.«
»Daß er mich verdächtigt?«
Verflucht, dachte Aranda, was soll das? Wer hat denn hier ein Recht auf einen solchen Ton? Sie oder ich? Ach, wir beide! Ich muß achtgeben, dachte Aranda, daß mein Haß mich nicht um meinen Verstand bringt. Er sprach ruhiger: »Der Hofrat sagte nicht das geringste gegen Sie. Aber trotzdem, Sie müssen doch verstehen …«
Irene Waldegg unterbrach ihn verbissen: »Ich verstehe schon. Aber trotzdem! Aber trotzdem kann man mir natürlich nicht trauen! Gerade mir nicht. Ich bin Apothekerin! Wie leicht komme ich an Gift heran! Ich bin belastet. Schwer belastet! Mit mir kann man nicht so einfach reden. Über mich muß man erst Erkundigungen einholen, mich bespitzeln lassen, sehen, ob ich nicht doch mitschuldig bin!«
»Das habe ich nicht gesagt!«
»Aber gedacht! Ich will Ihnen sagen, was ich denke. Ich denke, daß Ihr Betragen sehr ungehörig ist, Herr Aranda. Sie sind nicht der einzige, der einen schweren Verlust erlitten hat.«
Strahlend kam der Pförtner aus seiner Loge. Er lärmte geschwätzig: »Da hätten wir es, Fräulein! Alles in Ordnung? So, wie Sie es haben wollten? Ich find ja, er hat es sehr schön gemacht, der Herr Ebelseder, richtig künstlerisch! Und es wäre auch noch zur Bestattung fertig geworden, wenn Sie ihm rechtzeitig Bescheid gesagt hätten, sagt er.« Der Pförtner überreichte Irene Waldegg ein Gebilde aus Schmiedeeisen, das aussah wie ein leicht geöffneter Zirkel von etwa einem halben Meter Größe, mit einem breiten Querstab am spitzen Ende. Zwei Metallschenkel trafen sich oberhalb des Querstabes an der Kante eines kleinen Metallrahmens, hinter dem unter Glas schwarzumrandetes und schwarzbedrucktes Papier steckte. Der rotnasige, rotohrige Pförtner äußerte: »Das Holzkreuz auf dem Gab nehmen Sie einfach heraus, Fräulein, und werfen es in einen Abfallkorb. Stehen genug herum. Und das da müssen Sie in die Erde stoßen. Mit aller Kraft. So tief es geht. Nachher hält es schön ins Frühjahr, bis daß man den Stein setzen kann.«
Irene Waldegg nahm den großen schwarzen Zirkel mit beiden Händen. Aranda las, was auf dem Pate-Zettel stand:
VALERIE STEINFELD
6. MÄRZ 1904 – 9. JANUAR 1969
Darunter war noch ein Kreuz gedruckt.
»Eishart die Erde, natürlich. Aber jetzt, wo Sie den Herrn Bekannten getroffen haben, wird der Ihnen ja helfen. Ich meine …« Der Pförtner war irritiert. »Hab ich was Falsches gesagt? Soll ich doch lieber ein Taxi …«
»Nein!« Aranda sprach laut und schnell. »Kein Taxi.« Er wandte sich an Irene Waldegg. »Vergeben Sie mir mein Benehmen, bitte. Fahren wir zusammen. Ich … ich muß Sie vieles fragen …«
Sie stand stumm da, eine pathetische Gestalt mit dem Eisengebilde in den Händen und den großen, dunklen Gläsern vor den Augen. Endlich nickte sie.
Der Pförtner kam in Bewegung.
»Ich helfe Ihnen!«
Schnell nahm er Irene Waldegg die provisorische Grabtafel ab und eilte zu Arandas Wagen. Er schwankte, aber nur wenig. Die beiden jungen Menschen gingen ihm nach.
Der Pförtner verstaute den großen Zirkel im Fond des Mercedes. Aranda fragte Irene Waldegg: »Was für einen Wagen fahren Sie?«
»Auch einen Mercedes. Allerdings eine andere Type.«
»Wollen Sie dann nicht lieber ans Steuer? Ich finde mich hier doch nie zurecht.«
»Meinetwegen.« Irene Waldegg hob eine Hand nach der großen Brille, als wollte sie diese abnehmen, dann ließ sie die Hand wieder sinken und glitt hinter das Lenkrad des Mietwagens. Der Pförtner schloß den Schlag. Er folgte Aranda um den Mercedes herum zur anderen Seite.
»Alles in Ordnung mit dem Fräulein?« fragte er leise.
»Alles«, sagte Aranda.
»Ist ihr wohl sehr nahegegangen.«
»Natürlich.«
»Ja, der Tod«, sagte der Pförtner gemütvoll und steckte mit einer tiefen Verbeugung den zweiten Geldschein ein, den Aranda ihm reichte. Dann warf er die Wagentür zu und zog die Kappe. Dabei stellte sich heraus, daß er vollkommen kahl war.
Irene Waldegg fuhr langsam an.
Der Wagen rollte in die breite Allee hinein, die zur Dr. Karl Lueger-Kirche führt. Er holperte über Eisschwellen. Irene Waldegg sah starr geradeaus.
»Es muß einen Grund geben!« sagte Aranda.
»Es gibt keinen.«
»Wir kennen ihn nicht. Noch nicht! Hofrat Groll behauptet, Ihre Tante war geistig völlig normal.«
»Völlig!«
»Nun«, sagte Manuel Aranda, »dann muß es natürlich einen Grund dafür geben, warum Valerie Steinfeld meinen Vater vergiftet hat.«
5
Die Krähen schrien, die Krähen kreischten, die Krähen krächzten.
»Nichts«, sagte Irene Waldegg, den Wagen langsam und vorsichtig lenkend. »Nichts, nichts gibt es! Man kann den Verstand verlieren, wenn man immer wieder daran denkt. Ich finde keine Erklärung, kein Motiv. Nicht das abwegigste, nicht das unwahrscheinlichste. Es ist alles ganz unwirklich …«
»Aber Valerie Steinfeld ist tot«, sagte Manuel Aranda. »Und mein Vater ist tot. Das ist nicht unwirklich. Das ist die Wirklichkeit! Valerie Steinfeld hat meinen Vater vergiftet. Dann hat sie selber Gift genommen. Nach Ansicht der Polizei gibt es darüber keinen noch so geringen Zweifel.«
Irene Waldegg sagte: »Der Hofrat Groll ist ein kluger, erfahrener Mann. Und es sind ausgesuchte Spezialisten, die mit ihm arbeiten. Hat Groll Ihnen ein Motiv nennen können? Einen Grund? Ach, Grund! Den kleinsten Anhaltspunkt nur?«
Vorsicht, dachte Aranda. Ich habe dem Hofrat mein Ehrenwort gegeben, darüber zu schweigen.
Aranda hatte sich in der kurzen Zeit seines Wiener Aufenthalts lange und mehrmals mit dem hohen Polizeibeamten unterhalten. Er wußte vieles über viele Menschen.
Ich weiß eine Menge, wovon du nichts ahnst, dachte Aranda, die junge Frau von der Seite betrachtend. Aber ich werde dir nichts davon verraten. Ich wäre ein Schuft, wenn ich es täte, denn der Hofrat vertraut mir. Ich vertraue dir nicht, ich wäre verrückt, wenn ich einem von euch vertraute!
»Nein, nicht den kleinsten Anhaltspunkt«, log Manuel Aranda.
Irene Waldegg fuhr um den runden Platz vor der Kirche. Vom tiefverschneiten Dach und von allen Mauervorsprüngen hingen schwere Eiszapfen herab. Die junge Frau bog in eine Allee ein, die nach Südwesten führte.
»Seit wann kennen Sie den Hofrat Groll?« fragte Aranda.
»Seit … jenem Abend. Er ließ mich von seinen Männern holen und in die Buchhandlung bringen – damit ich meine Tante identifizierte, und zu einem ersten Verhör.« Irene Waldegg hob die Schultern. Sie schauderte. »Es war furchtbar. Die beiden sahen entsetzlich aus. Das Gift hatte …«