«Grummitt», fragte ich leise, «wer ist dieser ordinäre Kerl?»
«Keine Ahnung», erwiderte Grummitt.
«Recht unsympathisch.»
«Sehr.»
«Hoffentlich fährt er nicht regelmäßig.»
«Um Himmels willen», sagte Grummitt. Dann lief der Zug ein.
Diesmal stieg der Mann zu meiner großen Erleichterung in ein anderes Abteil.
Aber am nächsten Morgen hatte ich ihn wieder bei mir.
«Hm», sagte er, als er es sich auf dem Platz mir gegenüber bequem gemacht hatte, «famoser Tag heute.» Und von neuem spürte ich voller Unbehagen, wie sich in meiner Erinnerung langsam etwas regte, stärker jetzt, dichter an der Oberfläche, wenn auch noch immer nicht ganz in meiner Reichweite.
Dann kam Freitag, der letzte Arbeitstag der Woche. Morgens regnete es, aber es war einer jener warmen, sprühenden Aprilschauer, die nur fünf, sechs Minuten dauern, und als ich auf den Bahnsteig kam, waren alle Regenschirme eingerollt, die Sonne schien, und große weiße Wolken trieben am Himmel. Trotzdem fühlte ich mich bedrückt. Für mich hatte die Fahrt zur Stadt ihren Reiz verloren. Ich wusste, dass der Fremde da sein würde. Und wirklich, dort stand er, breitbeinig, als wäre er unser aller Herr und Gebieter, und diesmal schwang er seinen Spazierstock lässig hin und her.
Der Stock! Das gab den Ausschlag! Ich blieb wie angewurzelt stehen.
«Es ist Foxley!», flüsterte ich. «Der rasende Foxley! Und er schwingt noch immer seinen Stock!»
Ich trat näher an ihn heran, um mir Gewissheit zu verschaffen. Glauben Sie mir, ich habe noch nie im Leben so einen Schock bekommen. Es war tatsächlich Foxley. Bruce Foxley – der rasende Foxley, wie wir ihn nannten. Das letzte Mal hatte ich ihn in der Schule gesehen, und ich war damals – lassen Sie mich überlegen – ja, ich war nicht älter als zwölf, dreizehn Jahre gewesen.
In diesem Augenblick kam der Zug, und so wahr ich lebe, er stieg wieder in mein Abteil. Er legte Hut und Stock ins Gepäcknetz, wandte sich dann um, nahm Platz und setzte seine Pfeife in Brand. Durch den Rauch hindurch sah er mich mit seinen kleinen, kalten Augen an und sagte: «Kolossaler Tag, was? Wie im Sommer.»
Zweifellos, das war Foxleys Stimme. Sie hatte sich überhaupt nicht verändert. Jedenfalls nicht im Klang – die Worte, die sie sprach, waren nicht die von früher.
«Na schön, Perkins», hatte diese Stimme damals etwa gesagt: «Na schön, du ungezogener Bursche. Dann werde ich dir also wieder mal ein paar überziehen.»
Wann war das gewesen? Es musste fast fünfzig Jahre her sein. Erstaunlich, dass sich auch seine Gesichtszüge kaum verändert hatten. Noch immer das arrogant vorspringende Kinn, die hochmütig geblähten Nasenflügel, die verächtlich blickenden Augen, die zu klein waren und etwas zu eng zusammenstanden; noch immer diese Art, den Kopf herausfordernd vorzuschieben und einen mit dem Blick in die Enge zu treiben; sogar an das Haar konnte ich mich erinnern – dicht, leicht gewellt, ölig schimmernd wie ein gut gemischter Salat. Er hatte immer eine Flasche mit grünem Haarwasser auf seiner Kommode stehen – wenn man in einem Zimmer Staub wischen muss, lernt man die Gegenstände darin allmählich kennen und hassen. Auf dem Etikett der Flasche prangten das königliche Wappen und der Name einer Firma in der Bond Street; darunter standen die kleingedruckten Worte: ‹Hoflieferant und Friseur Seiner Majestät König Edward VII. Dieser Satz hat sich mir eingeprägt, weil ich es immer so komisch fand, dass jemand damit prahlte, der Friseur eines Mannes zu sein, der zwar ein König, aber nichtsdestoweniger fast kahl war.
Und jetzt saß ich also Foxley gegenüber und beobachtete, wie er sich zurücklehnte und anfing, die Zeitung zu lesen. Es war ein seltsames Gefühl, nur einen Meter von diesem Mann entfernt zu sein, der mich vor fünfzig Jahren derart gequält hatte, dass ich mitunter dem Selbstmord nahe gewesen war. Mich hatte er nicht wiedererkannt, und wegen meines Schnurrbarts war das auch nicht zu befürchten. Ich fühlte mich völlig sicher. Nichts hinderte mich, ihn zu betrachten, so lange ich wollte.
Wenn ich zurückdenke, wird mir erst klar, wie entsetzlich ich in meinem ersten Schuljahr unter Foxley gelitten habe. Schuld daran war seltsamerweise mein Vater, natürlich ohne dass er es wusste.
Ich war zwölfeinhalb Jahre alt, als ich in diese traditionsreiche alte Public School kam. Das war – einen Moment bitte –, richtig, im Jahre 1907. Mein Vater, der einen seidenen Zylinder und einen Cutaway trug, brachte mich zum Bahnhof. Ich erinnere mich noch sehr gut: Wir standen zwischen Koffern und Kartons, inmitten einer – so schien es mir jedenfalls – tausendköpfigen Schar sehr großer, sehr lebhafter, sehr laut miteinander sprechender Jungen, als plötzlich jemand, der an uns vorbeiwollte, meinen Vater von hinten so heftig anstieß, dass er ihn fast zu Boden warf.
Mein Vater, ein kleiner, höflicher, würdiger Mann, drehte sich erstaunlich schnell um und packte den Schuldigen am Handgelenk.
«Bringt man euch in eurer Schule keine besseren Manieren bei, junger Mann?», fragte er.
Der Junge, der mindestens einen Kopf größer als mein Vater war, sah mit einem kalten Blick auf ihn herunter, lächelte arrogant und schwieg.
«Mir scheint», sagte mein Vater und erwiderte den Blick ebenso kalt, «dass eine Entschuldigung angebracht wäre.»
Aber der Junge stand nur da und sah mit diesem merkwürdigen arroganten Lächeln in den Mundwinkeln auf meinen Vater hinunter, während sein Kinn sich weiter und weiter vorschob.
«Du bist ein unverschämter und schlecht erzogener Bursche», fuhr mein Vater fort. «Ich kann nur hoffen und wünschen, dass du in deiner Schule eine Ausnahme bist. Ich lege nicht den geringsten Wert darauf, dass mein Sohn solche Manieren annimmt.»
Hier wandte der große Junge den Kopf in meine Richtung, und zwei kleine, kalte, ziemlich eng zusammenstehende Augen starrten auf mich herab. Ich ließ mich nicht einschüchtern; ich wusste damals noch nicht, welche Macht in Public Schools die älteren Schüler über die jüngeren haben. Um meinen Vater zu unterstützen, den ich liebte und achtete, hielt ich diesem Blick tapfer stand.
Mein Vater wollte noch etwas hinzufügen, aber der Junge drehte sich einfach um und schlenderte gemächlich den Bahnsteig entlang, bis er in der Menge verschwand.
Bruce Foxley vergaß diesen Zwischenfall nie. Es war natürlich mein besonderes Pech, dass ich – wie sich bei meiner Ankunft in der Schule herausstellte – zu demselben ‹Haus› gehörte wie er. Schlimmer noch, ich war in seiner Gruppe. Er absolvierte sein letztes Jahr, und er war Vertrauensmann – Präfekt, wie das bei uns hieß. In dieser Eigenschaft war er offiziell berechtigt, jeden Schüler der unteren Klassen zu verprügeln. Und da ich in seiner Gruppe war, wurde ich automatisch sein persönlicher Sklave. Als Foxleys Kammerdiener, Koch, Dienstmädchen und Laufbursche war es meine Pflicht, darauf zu achten, dass er keinen Finger krumm machte, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Ich kenne keine Gesellschaftsordnung, in der ein Diener so ausgebeutet wird, wie wir unglücklichen ‹Füchse› von den Präfekten der Schule ausgebeutet wurden. Im Winter musste ich mich sogar jeden Morgen auf die Toilette hocken – sie befand sich in einem ungeheizten Bretterverschlag –, um den Sitz anzuwärmen, bis Foxley kam.
Ich erinnere mich noch genau an seine schlaksige, lässig elegante Art, durch ein Zimmer zu schlendern. Wenn ihm ein Stuhl im Wege war, stieß er ihn um und überließ es mir, ihn aufzuheben. Er trug seidene Hemden und hatte immer ein seidenes Taschentuch im Ärmelaufschlag stecken. Seine Schuhe wurden von einem Mann namens Lobb angefertigt, der ebenfalls den Titel Hoflieferant führte. Es waren spitze Schuhe, und ich musste das Leder jeden Tag fünfzehn Minuten lang mit einem Knochen polieren.