Das Interesse des Jungen erwachte. «Komm, lass mich mal probieren – auf deinem Arm.»
Mit der summenden Nadel zog er blaue Linien über Driolis Arm. «Es ist wirklich einfach», murmelte er. «Als ob man eine Federzeichnung macht. Ganz genauso, es geht nur etwas langsamer.»
«Na bitte, ich hab’s ja gesagt. Bist du fertig? Wollen wir anfangen?»
«Ja.»
«Das Modell!», rief Drioli. «Los, los, Josie!» In einem Taumel der Begeisterung torkelte er durch den Raum, eifrig wie ein Kind, das ein aufregendes Spiel vorbereitet. «Wo willst du sie haben? Wo soll sie stehen?»
«Dort drüben vor der Kommode. Mit offenem Haar. Ich werde sie malen, wie sie ihr Haar bürstet.»
«Großartig. Du bist ein Genie.»
Widerwillig erhob sich die junge Frau und stellte sich vor die Kommode. Ihr Glas nahm sie mit.
Drioli zog sein Hemd und die Hose aus. Nur noch mit Unterhose, Socken und Schuhen bekleidet, stand er leicht schwankend da. Sein magerer Oberkörper war fest, weißhäutig, fast unbehaart. «So», sagte er, «jetzt bin ich die Leinwand. Wo willst du deine Leinwand haben?»
«Auf der Staffelei, wie immer.»
«Sei nicht albern. Die Leinwand bin doch ich.»
«Dann geh auf die Staffelei, denn da gehörst du hin.»
«Wie kann ich das?»
«Bist du die Leinwand, Ja oder nein?»
«Natürlich bin ich die Leinwand. Ich fühle mich schon ganz wie eine Leinwand.»
«Dann geh auf die Staffelei. Das kann doch nicht so schwierig sein.»
«Wirklich, es ist unmöglich.»
«Na gut, setz dich auf den Stuhl. Setz dich rittlings drauf, dann kannst du deinen betrunkenen Kopf auf die Lehne stützen. Beeil dich, ich will anfangen.»
«Ich bin fertig. Ich warte.»
«Zuerst», sagte der Junge, «mache ich einen Entwurf. Wenn mir das Bild gefällt, werde ich es eintätowieren.» Und er begann mit einem breiten Pinsel den nackten Rücken zu bemalen.
«Uiii! Uiii!», schrie Drioli. «Ein riesiger Tausendfüßler läuft mir das Rückgrat herunter.»
«Sitz still! Bewege dich nicht!» Der Junge arbeitete schnell. Er benutzte eine dünne blaue Wasserfarbe, damit er später ungehindert tätowieren konnte. Seit er zu malen begonnen hatte, war seine Konzentration so stark, dass sie die Trunkenheit zu verdrängen schien. Er setzte die Pinselstriche mit kurzen, ruckartigen Armbewegungen und hielt dabei das Handgelenk steif. In weniger als einer halben Stunde war der Entwurf fertig.
«Gut. Das ist alles», sagte er zu Josi, die sofort zur Couch ging, sich hinlegte und einschlief.
Drioli blieb wach. Er sah zu, wie der Junge nach der Nadel griff und sie in die Tusche tauchte; dann, als sie ihm in die Haut drang, fühlte er ein scharfes, kitzelndes Stechen. Der Schmerz, der unangenehm, aber nicht unerträglich war, hinderte ihn einzuschlafen. Er vertrieb sich die Zeit, indem er den Lauf der Nadel verfolgte und beobachtete, welche Tuschen der Junge wählte. Daraus suchte er dann Form und Farben des Bildes zu erraten, das auf seinem Rücken entstand. Der Junge arbeitete mit erstaunlicher Intensität. Für ihn schien es nur noch diesen Tätowierapparat zu geben, mit dem sich so ungewöhnliche Effekte erzielen ließen.
Bis in den frühen Morgen hinein summte der kleine Motor. Draußen war es schon hell, und von der Straße drangen Geräusche ins Zimmer, als der Künstler endlich zurücktrat und sagte: «Es ist fertig.»
«Ich möchte es sehen», bat Drioli. Der Junge hielt einen Spiegel hoch, den er ein wenig zur Seite neigte, und Drioli verrenkte sich fast den Hals, um hineinzuschauen.
«Mein Gott!», rief er. Es war ein erstaunlicher Anblick. Von den Schultern bis zum Ende der Wirbelsäule war sein Rücken ein einziges Farbenmeer – golden und grün und blau und schwarz und rot. Die Tätowierung war so dicht, dass sie fast wie ein Impasto wirkte. Der Junge war den ursprünglichen Pinselstrichen so genau wie möglich gefolgt und hatte die Flächen farbig ausgefüllt. Es war wunderbar, wie er das Rückgrat und die Wölbung der Schulterblätter in die Komposition einbezogen hatte. Vor allem war es ihm trotz der zwangsläufig langsameren Arbeitsweise gelungen, die Ursprünglichkeit des Ausdrucks zu bewahren. Das Verzerrte, Gequälte, das so charakteristisch für die anderen Werke Soutines war, offenbarte sich auch hier. Sehr ähnlich war das Porträt nicht. Dem Jungen hatte wohl mehr daran gelegen, eine Stimmung einzufangen – trunken, in verschwimmenden Umrissen hob sich das Gesicht des Modells von einem Hintergrund wirbelnd kreisender dunkelgrüner Pinselstriche ab.
«Es ist großartig!»
«Ich muss sagen, mir gefällt es auch.» Der Junge trat zurück und betrachtete es kritisch. «Weißt du», fügte er hinzu, «ich glaube, es ist gut genug, signiert zu werden.» Er schaltete den Apparat ein und schrieb seinen Namen mit roter Tusche über die Stelle, an der Driolis rechte Niere saß.
Der alte Mann, der Drioli hieß, stand in einer Art von Trance vor dem Schaufenster der Kunsthandlung und starrte das Bild an. Das alles war so lange her – beinahe, als wäre es in einem anderen Leben geschehen.
Und der Junge? Was war aus ihm geworden? Drioli erinnerte sich jetzt, dass er ihn vergebens gesucht hatte, als er aus dem Krieg – dem ersten Krieg – zurückkehrte. Auf seine Frage: «Wo ist mein kleiner Kalmück?», hatte Josie geantwortet: «Er ist fort. Ich weiß nicht, wo er ist; angeblich soll sich ein Kunsthändler seiner angenommen und ihn nach Céret geschickt haben, damit er dort Bilder malt.»
«Vielleicht kommt er wieder.»
«Vielleicht. Wer weiß?»
Das war das letzte Mal gewesen, dass sie von ihm gesprochen hatten. Bald darauf waren sie nach Le Havre gezogen, wo es mehr Seeleute gab und das Geschäft besser ging. Der alte Mann lächelte, als er an Le Havre dachte. Gute Jahre waren das gewesen, die Jahre zwischen den Kriegen, mit dem kleinen Laden in der Nähe des Hafens und der gemütlichen Wohnung. Jeden Tag hatten sich drei, vier oder fünf Seeleute bei ihm tätowieren lassen, sodass es nie an Arbeit fehlte. Wirklich, das waren gute Jahre gewesen.
Dann war der zweite Krieg ausgebrochen. Josie war umgekommen, und die Deutschen waren einmarschiert. Niemand hatte sich mehr ein Bild auf den Arm tätowieren lassen wollen. Und Drioli war mittlerweile zu alt geworden, als dass er sich auf eine andere Arbeit hätte umstellen können. Verzweifelt war er nach Paris zurückgekehrt, in der unbestimmten Hoffnung, dass in einer so großen Stadt alles leichter sein werde. Aber darin hatte er sich getäuscht.
Und nun, da der Krieg vorbei war, besaß er weder die Mittel noch die Energie, sein kleines Geschäft neu aufzubauen. Es war nicht einfach für einen alten Mann, sich durchzuschlagen – besonders wenn es einem widerstrebte zu betteln. Aber wie sonst sollte er am Leben bleiben?
Er starrte noch immer unverwandt auf das Bild. Das ist also mein kleiner Kalmück, dachte er. Wie schnell so ein Anblick die Erinnerung aufrühren kann. Bis vor wenigen Minuten hatte er sogar die Tätowierung auf seinem Rücken völlig vergessen. Seit einer Ewigkeit hatte er nicht mehr daran gedacht. Er presste das Gesicht an die Glasscheibe und spähte in das Innere der Kunsthandlung. An den Wänden konnte er zahlreiche Gemälde erkennen, die alle von demselben Künstler zu stammen schienen. Viele Menschen gingen umher und betrachteten die Bilder. Offensichtlich war dies eine Sonderausstellung.
Einem plötzlichen Impuls folgend, stieß Drioli die Tür der Galerie auf und ging hinein.
Er stand in einem langgestreckten Raum auf einem dicken weinroten Teppich. Mein Gott, wie schön und wie warm es hier war! Und alle diese Menschen, die von einem Bild zum anderen schlenderten, gut gewaschen, gut gekleidet, einen Katalog in der Hand! Drioli blieb an der Tür stehen und sah sich nervös um. Ob er es wagen durfte, sich unter die Menge zu mischen? Bevor er Zeit hatte, seinen Mut zusammenzunehmen, hörte er eine Stimme fragen: «Was wollen Sie hier?»
Der Mann trug einen schwarzen Cutaway, war klein und dick und hatte ein sehr weißes Gesicht. Ein schlaffes Gesicht, dessen fleischige Wangen in zwei Fettwülsten über die Mundwinkel hingen. Er trat dicht an Drioli heran und fragte noch einmaclass="underline" «Was wollen Sie hier?»