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Er stand im Garten neben dem Holztisch, so blass, klein und dünn, dass er einem greisenhaften, schwindsüchtigen, bebrillten Kind glich. Die Sonne war untergegangen. Kein Lüftchen regte sich, kein Geräusch war zu hören. Vom Rasen aus konnte er über einen niedrigen Zaun in den Nachbargarten sehen, wo eine Frau mit einem Blumenkorb zwischen den Beeten umherging. Er betrachtete sie eine Zeitlang, dachte aber dabei an etwas ganz anderes. Dann wandte er sich dem Kasten auf dem Tisch zu und drückte einen Hebel an der Vorderseite herunter. Er legte die linke Hand auf den Lautstärkeregler und die rechte auf den Drehknopf, mit dem sich ein Zeiger über eine große Skalenscheibe bewegen ließ. Auf der Skala standen wie bei einem Radioapparat die Frequenzangaben – viele Zahlen zwischen 15 000 und 1 000 000.

Nun beugte er sich über den Kasten, den Kopf gespannt lauschend zur Seite geneigt, und begann mit der rechten Hand den Knopf zu drehen. Der Zeiger wanderte langsam über die Skala, so langsam, dass Klausner kaum eine Bewegung sah. In dem Kopfhörer ertönte ein schwaches, unregelmäßiges Knistern.

Außer diesem knisternden Geräusch vernahm er noch ein gedämpftes Summen, das von dem Apparat selbst herrührte, aber das war alles. Während er lauschte, überkam ihn ein seltsames Gefühclass="underline" Ihm war, als wüchsen seine Ohren weit aus dem Kopf heraus, als sei jedes Ohr durch einen dünnen, steifen Draht mit dem Kopf verbunden und als würde dieser Draht immer länger, sodass die Ohren wie Fühler höher und höher in ein geheimes Territorium vordrangen, in ein gefährliches ultrasonores Gebiet, in das sich Menschenohren noch nie gewagt hatten und eigentlich auch nicht wagen durften.

Der kleine Zeiger wanderte langsam über die Skala. Plötzlich hörte Klausner einen Schrei, einen entsetzlichen, durchdringenden Schrei. Er zuckte zusammen, und seine Hände krampften sich um den Rand des Tisches. Dann blickte er nach allen Seiten, als erwarte er, denjenigen zu sehen, der geschrien hatte. Aber er sah nur die Frau im Nachbargarten, und die war es bestimmt nicht gewesen. Sie stand über ein Beet gebückt, schnitt gelbe Rosen und legte sie in ihren Korb.

Da war er wieder – dieser kehllose, unmenschliche Schrei, scharf und kurz, sehr klar und kalt. Der Ton hatte etwas Metallisches, Mollartiges, wie es Klausner nie zuvor gehört hatte. Er schaute umher, suchte instinktiv nach dem Ursprung des Geräusches. Die Frau nebenan war das einzige lebende Wesen, das er entdecken konnte. Er sah, wie sie eine Rose am Stiel ergriff und sie mit der Gartenschere abschnitt.

Wieder der Schrei. Er gellte genau in dem Augenblick auf, als der Rosenstiel durchgeschnitten wurde. Jetzt legte die Frau die Schere zu den Rosen in den Korb und wandte sich zum Gehen.

«Mrs. Saunders!», schrie Klausner mit vor Aufregung schriller Stimme. «Hallo, Mrs. Saunders!»

Die Frau fuhr herum und sah ihren Nachbarn auf dem Rasen stehen – eine phantastische kleine Gestalt mit seltsamen Klappen über den Ohren, die heftig die Arme schwenkte und so schrill, so laut nach ihr rief, dass sie dachte, es sei etwas passiert.

«Schneiden Sie noch eine ab! Bitte schneiden Sie schnell noch eine ab!»

Sie starrte ihn verdutzt an. «Nanu, Mr. Klausner», sagte sie. «Was ist denn los?»

«Bitte, tun Sie mir den Gefallen», beschwor er sie. «Schneiden Sie noch eine Rose ab!»

Mrs. Saunders hatte ihren Nachbarn schon immer für einen Sonderling gehalten, und jetzt war er anscheinend völlig verrückt geworden. Sie überlegte, ob sie ins Haus laufen und ihren Mann holen sollte. Nein, dachte sie. Nein, er ist harmlos. Ich darf ihm nur nicht widersprechen. «Gern, Mr. Klausner, ganz wie Sie wollen», sagte sie, nahm die Schere aus dem Korb, bückte sich und schnitt eine Rose ab.

Und wieder hörte Klausner diesen entsetzlichen, kehllosen Schrei, wieder genau in dem Augenblick, da der Rosenstiel durchgeschnitten wurde. Er nahm den Kopfhörer ab und lief an den Zaun, der die beiden Gärten trennte. «Halt!», rief er. «Das genügt. Nicht noch mehr. Bitte, nicht noch mehr.»

Die Frau hob erstaunt den Kopf, die gelbe Rose in der einen, die Gartenschere in der anderen Hand.

«Ich will Ihnen etwas sagen, Mrs. Saunders», sprach er weiter. «Etwas so Merkwürdiges, dass Sie’s vielleicht gar nicht glauben werden.» Er legte die Hand auf den Zaun und sah sie eindringlich durch seine dicken Brillengläser an. «Sie haben heute Abend einen Korb voll Rosen geschnitten. Sie haben mit einer scharfen Schere die Stiele lebender Wesen durchtrennt, und jede Rose hat dabei entsetzlich geschrien. Haben Sie das gewusst, Mrs. Saunders?»

«Nein», antwortete sie. «Das habe ich wirklich nicht gewusst.»

«So ist es aber», versicherte Klausner. Er atmete hastig, bemühte sich jedoch, seine Erregung zu unterdrücken. «Ich habe gehört, wie sie schrien. Jedes Mal wenn Sie eine Rose abschnitten, hörte ich diesen Schmerzensschrei. Ziemlich hoch, ungefähr einhundertzweiunddreißigtausend Schwingungen in der Sekunde. Sie, Mrs. Saunders, konnten es natürlich nicht hören. Aber ich habe es gehört.»

«Ist das wahr, Mr. Klausner?» Sie beschloss, bis fünf zu zählen und dann auf das Haus zuzurennen.

«Sie werden vielleicht einwenden», fuhr er fort, «dass ein Rosenstrauch kein Nervensystem hat, mit dem er etwas empfinden kann, und keine Kehle, die es ihm ermöglicht zu schreien. Das stimmt. Er hat beides nicht. Nicht so wie wir jedenfalls. Aber woher wissen Sie, Mrs. Saunders –» er lehnte sich weit über den Zaun und sprach in einem leidenschaftlichen Flüsterton – «woher wissen Sie, dass ein Rosenstrauch, von dem man eine Blüte abschneidet, nicht ebenso großen Schmerz empfindet wie Sie, wenn man Ihnen mit einer Gartenschere das Handgelenk durchschneidet. Woher wissen Sie das? Der Strauch lebt doch, nicht wahr?»

«Ja, Mr. Klausner. O ja … Gute Nacht.» Damit machte sie kehrt und lief wie gehetzt den Gartenweg entlang. Klausner ging zum Tisch zurück. Er setzte den Kopfhörer auf und blieb eine Weile lauschend stehen. Nichts – nur das schwache Knistern und das Summen im Apparat. Er bückte sich, nahm ein weißes Gänseblümchen zwischen Daumen und Zeigefinger und zog langsam daran, bis der Stängel brach.

Von dem Augenblick, in dem er zu ziehen begann, bis zu dem Augenblick, da der Stängel brach, hörte er deutlich einen Schrei, einen leisen, hohen, seltsam unbeseelten Schrei. Er wiederholte das Experiment an einem anderen Gänseblümchen. Auch diesmal drang aus dem Kopfhörer ein Schrei an sein Ohr – aber er war jetzt nicht sicher, was dieser Schrei ausdrückte: Schmerz? Nein, eher Überraschung. Oder auch das nicht? Dieser Schrei drückte in Wahrheit keine der Empfindungen aus, die dem Menschen bekannt sind. Es war einfach ein Schrei, ein neutraler, unbeteiligter Schrei – ein einzelner Ton, der nichts ausdrückte. Und genauso war es bei den Rosen gewesen. Er hatte unrecht gehabt, es einen Schmerzensschrei zu nennen. Eine Blume empfindet wahrscheinlich keinen Schmerz. Sie fühlt etwas anderes, von dem wir nichts wissen – etwas, was vielleicht Schmarte heißt oder Plupfer oder Erflückerung oder sonst wie.

Klausner richtete sich auf und nahm den Kopfhörer ab. Es wurde dunkel. Er sah, wie in den umliegenden Häusern die Lichter aufflammten. Vorsichtig hob er den schwarzen Kasten vom Tisch, trug ihn in den Schuppen und stellte ihn auf die Werkbank. Dann schloss er die Tür von außen ab und ging ins Haus.

Am nächsten Morgen stand er in aller Frühe auf, zog sich an und lief sofort in den Schuppen, um den Apparat zu holen. Er umfasste ihn mit beiden Händen, drückte ihn gegen die Brust und schritt, leicht unter dem Gewicht schwankend, am Haus vorbei zur Gartenpforte und von dort über die Straße in den Park. Nachdem er kurz Umschau gehalten hatte, ging er weiter, bis er zu einem großen Baum kam, einer Buche. Er stellte den Kasten dicht neben den Baumstamm. Dann rannte er ins Haus zurück, holte eine Axt aus dem Kohlenkeller, trug sie über die Straße in den Park und legte sie ebenfalls neben den Baum.