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Natürlich ist er Junggeselle, und er scheint nie in die Netze der Frauen zu geraten, die sich um ihn bemühen und ihn innig lieben. Es ist allerdings möglich – vielleicht werden Sie es in meinem Fall bemerken –, dass irgendwo in ihm eine Leere ist, eine Unzufriedenheit, ein Bedauern. Unter Umständen sogar eine leichte Perversion.

Ich glaube, mehr brauche ich nicht zu sagen. Ich bin sehr offen gewesen. Sie müssten mich jetzt gut genug kennen, um mir, wenn Sie meine Geschichte hören, Gerechtigkeit und – darf ich es hoffen? – Mitgefühl zuteil werden zu lassen. Und wer weiß, ob Sie nicht sogar zu dem Schluss kommen, dass die Schuld an dem, was geschehen ist, nicht nur mich trifft, sondern in erheblichem Maße auch eine Dame namens Gladys Ponsonby. Schließlich war sie es, die den Stein ins Rollen brachte. Hätte ich Gladys Ponsonby an jenem Abend vor etwa sechs Monaten nicht nach Hause begleitet und hätte sie nicht so offen über gewisse Leute und gewisse Dinge gesprochen, dann wäre diese tragische Geschichte nie passiert.

Es war im letzten Dezember, wenn ich mich recht erinnere. Ich hatte bei den Ashendens in ihrem bezaubernden Haus am Südrand des Regent’s Park diniert. Bis auf Gladys Ponsonby und mich waren alle Gäste – eine stattliche Anzahl – paarweise erschienen. Als wir aufbrachen, fühlte ich mich natürlich verpflichtet, Gladys meine Begleitung anzubieten. Sie nahm an, und wir fuhren zusammen in meinem Wagen fort. Vor ihrem Haus machte ich Miene, mich zu verabschieden, doch sie bestand unglücklicherweise darauf, dass ich hereinkäme und ‹noch einen auf den Weg› nähme, wie sie sich ausdrückte. Ich wollte kein Spielverderber sein, befahl also dem Chauffeur zu warten und folgte ihr.

Gladys Ponsonby ist ungewöhnlich klein – sie misst allenfalls ein Meter vierundvierzig, vielleicht sogar noch weniger. Neben solchen winzigen Leuten habe ich immer das komische, fast schwindelerregende Gefühl, auf einem Stuhl zu stehen. Gladys ist Witwe und ein bisschen jünger als ich – schätzungsweise drei- oder vierundfünfzig. Vor dreißig Jahren dürfte sie ein recht nettes Persönchen gewesen sein. Jetzt aber ist ihr Gesicht schlaff, runzlig und ohne jeglichen Reiz. Die individuellen Züge dieses Gesichts, die Augen, die Nase, der Mund, das Kinn, sind unter Fettfalten begraben, sodass man sie überhaupt nicht wahrnimmt. Bis auf den Mund vielleicht, der mich – ich kann mir nicht helfen – an ein Karpfenmaul erinnert.

Als sie mir im Wohnzimmer einen Cognac einschenkte, fiel mir auf, dass ihre Hand etwas unsicher war. Die Dame ist müde, sagte ich mir, du darfst also nicht lange bleiben. Wir setzten uns auf das Sofa und sprachen eine Weile über die Party bei den Ashendens und die Leute, die da gewesen waren. Schließlich stand ich auf.

«Setz dich wieder hin, Lionel», sagte sie. «Trink noch einen Cognac.»

«Nein, ich muss gehen. Wirklich.»

«Setz dich hin und rede kein dummes Zeug. Ich jedenfalls trinke noch einen, und du kannst mir wenigstens Gesellschaft dabei leisten.»

Ich beobachtete Gladys, diese winzige Frau, die leicht schwankend auf die Anrichte zusteuerte. Sie trug das Glas in beiden Händen vor sich her, als wollte sie ein Opfer darbringen, und ihr Anblick, wie sie da ging, so unglaublich klein und gedrungen und steif, rief in mir plötzlich die alberne Vorstellung wach, ihre Beine seien oberhalb der Knie zusammengewachsen.

«Lionel, worüber amüsierst du dich so?» Sie drehte sich halb nach mir um, während sie ihr Glas füllte, und dabei verschüttete sie ein wenig Cognac.

«Über nichts, meine Liebe. Über gar nichts.»

«Dann hör auf zu grinsen und sag mir, wie dir mein neues Porträt gefällt.» Sie wies auf ein riesiges Gemälde, das über dem Kamin hing. Ich hatte mich schon die ganze Zeit bemüht, es nicht anzusehen. Diesen fürchterlichen Schinken hatte, wie ich wusste, ein Mann gemalt, der zurzeit in London sehr in Mode war, ein recht mittelmäßiger Künstler namens John Royden. Es war ein lebensgroßes Porträt von Gladys, Lady Ponsonby, und der Maler hatte mit einer gewissen technischen Raffinesse den Eindruck erweckt, sie sei ein schlankes, hochgewachsenes und überaus reizvolles Geschöpf.

«Bezaubernd», sagte ich.

«Nicht wahr? Ich bin so froh, dass du es magst.»

«Wirklich entzückend.»

«Ich halte John Royden für ein Genie. Findest du nicht auch, dass er ein Genie ist, Lionel?»

«Hm – das geht vielleicht ein bisschen zu weit.»

«Du meinst, man könnte das noch nicht so genau wissen?»

«Ganz recht.»

«Nun, mein Lieber, dann höre und staune: Royden ist jetzt so gefragt, dass er nicht im Traum daran denkt, jemanden für weniger als tausend Guineas zu malen!»

«Tatsächlich?»

«O ja! Und die Leute laufen ihm das Haus ein, laufen ihm buchstäblich das Haus ein, damit er sie malt.»

«Höchst interessant.»

«Sieh dir dagegen deinen Mr. Cézanne an, oder wie er heißt. Ich wette, der hat zeit seines Lebens nicht so viel Geld verdient.»

«Nie.»

«Und der war ein Genie?»

«Könnte man sagen – ja.»

«Dann ist Royden auch eines», entschied sie und setzte sich wieder neben mich. «Das Geld beweist es.»

Wir schwiegen eine Weile. Gladys nippte an dem Cognac, und ihre Hand zitterte dabei so stark, dass der Rand des Glases mehrmals an die Unterlippe stieß. Ich beobachtete sie, und das spürte sie wohl, denn sie blickte mich, ohne den Kopf zu wenden, misstrauisch von der Seite an. «Einen Penny für deine Gedanken.»

Wenn es eine Redewendung gibt, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann, dann ist es diese. Sie erzeugt einen physischen Schmerz in meiner Brust, und ich fange an zu husten.

«Na los, Lionel. Einen Penny …»

Ich schüttelte den Kopf, außerstande zu antworten. Sie wandte sich mit einer jähen Bewegung ab und stellte das Cognacglas auf den kleinen Tisch zu ihrer Linken. Irgendetwas in ihrem Verhalten deutete an, dass sie sich – ich weiß nicht, warum – zurückgestoßen fühlte und nun zum Angriff rüstete. Ich wartete voller Unbehagen, aber sie schwieg, und da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, machte ich viele Umstände mit meiner Zigarre, betrachtete aufmerksam die Asche und blies den Rauch langsam gegen die Decke. Gladys rührte sich nicht. Diese Dame hatte jetzt irgendetwas an sich, was mir nicht sehr gefiel, etwas Boshaftes, Lauerndes. Am liebsten wäre ich aufgestanden und hätte mich schleunigst empfohlen. Als sie mich endlich wieder ansah, funkelte ein listiges Lächeln in ihren kleinen, in Fett gebetteten Augen, aber der Mund – ach, genau wie das Maul eines Karpfens – blieb völlig unbewegt.

«Lionel, ich möchte dir ein Geheimnis anvertrauen.»

«Wirklich, Gladys, ich muss nach Hause.»

«Hab keine Angst, Lionel, ich werde dich nicht in Verlegenheit bringen. Du siehst auf einmal so ängstlich aus.»

«Für mich haben Geheimnisse etwas Bedrückendes.»

«Ich nahm an», sagte sie, «dass es dich interessieren würde, weil du doch so ein großer Kunstkenner bist.»

Gladys saß ganz still, nur ihre Finger bewegten sich unaufhörlich. Sie drehte sie immer wieder umeinander, sodass es aussah, als ringelten sich kleine weiße Schlangen in ihrem Schoß.

«Bist du nicht neugierig auf mein Geheimnis, Lionel?»

«Doch, doch. Aber weißt du, es ist schon so schrecklich spät …»

«Dies ist wahrscheinlich das bestgehütete Geheimnis in London. Ein weibliches Geheimnis. Alles in allem ist es nur – na, sagen wir, dreißig – oder vierzig Frauen bekannt. Und keinem einzigen Mann. Außer ihm natürlich – John Royden.»