Ich wollte sie nicht noch ermutigen, deshalb hielt ich den Mund.
«Aber zuerst musst du versprechen – versprechen, dass du es keiner Menschenseele weitererzählst.»
«Du meine Güte!»
«Versprichst du mir das, Lionel?»
«Na schön, Gladys, ich verspreche es.»
«Gut! Also hör zu, » Sie griff nach dem Cognacglas und lehnte sich in ihrer Sofaecke bequem zurück. «Du weißt doch, dass John Royden nur Frauen malt?»
«Das ist mir neu.»
«Und immer sind es Ganzporträts, entweder stehend oder sitzend – wie meines da. Sieh es dir einmal genau an, Lionel. Fällt dir nicht auf, wie schön das Kleid gemalt ist?»
«Hm …»
«Bitte, sieh es dir aus der Nähe an.»
Ich erhob mich widerwillig, ging hinüber und betrachtete das Bild. Die Farbschicht auf dem Kleid war, wie ich erstaunt feststellte, so dick, dass die Figur wie ein Basrelief wirkte. Ein Trick, recht eindrucksvoll auf seine Art, aber weder technisch schwierig noch besonders originell.
«Siehst du?», fragte sie. «Da, wo das Kleid ist, tritt die Farbe hervor, nicht wahr?»
«Ja.»
«Nun, das ist noch lange nicht alles, Lionel. Ich glaube, am besten beschreibe ich dir einfach, wie es war, als ich ihm zum ersten Mal Modell saß.»
Mein Gott, was für eine langweilige Person, dachte ich. Wie komme ich hier bloß weg?
«Vor etwa einem Jahr – oh, ich weiß noch, wie aufgeregt ich war – verabredete ich mit dem großen Maler eine Sitzung in seinem Atelier. Ich zog mir ein wunderbares neues Kleid an, das ich gerade von Norman Hartnell bekommen hatte, setzte ein süßes rotes Hütchen auf und machte mich auf den Weg. Mr. Royden empfing mich in einer schwarzen Samtjacke, und natürlich war ich sofort von ihm fasziniert. Er hatte einen kleinen Spitzbart und aufregend blaue Augen. Das Atelier war riesengroß, mit roten Samtsofas, Samtsesseln, Samtvorhängen – er liebt Samt – und sogar einem Samtteppich auf dem Fußboden. Mr. Royden bat mich, Platz zu nehmen, gab mir etwas zu trinken und kam sogleich zur Sache. Er erklärte mir, dass er ganz anders male als andere Künstler. Seiner Meinung nach, sagte er, gebe es nur eine Art, den Körper einer Frau wirklich vollendet zu malen, aber ich dürfe nicht schockiert sein, wenn ich hörte, was es sei.
‹Ich glaube nicht, dass ich schockiert sein werde, Mr. Royden›, erwiderte ich.
‹Sie werden mich gewiss richtig verstehen›, meinte er. Seine Zähne waren phantastisch weiß, und wenn er lächelte, schimmerten sie sozusagen durch den Bart. ‹Sehen Sie, es ist so›, fuhr er fort. ‹Bei jedem beliebigen Frauenbildnis, ganz gleich, von wem es stammt, werden Sie feststellen, dass die Figur des Modells, so gut das Kleid auch gemalt sein mag, immer etwas Künstliches, Flaches hat, als wäre das Kleid über einem Holzklotz drapiert. Und wissen Sie, warum?›
‹Nein, Mr. Royden.›
‹Weil der Maler nicht wusste, was darunter war.›»
Gladys Ponsonby hielt inne, um einen Schluck Cognac zu trinken. «Mach nicht so ein entsetztes Gesicht, Lionel», wies sie mich zurecht. «Das ist doch alles ganz harmlos. Sei still und lass mich zu Ende erzählen. Ja, und dann sagte Mr. Royden: ‹Deshalb bestehe ich darauf, meine Modelle zuerst als Akt zu malen.›
‹Du lieber Himmel, Mr. Royden!› rief ich.
‹Sollten Sie etwas dagegen haben, Lady Ponsonby, so bin ich zu einer kleinen Konzession bereit, versicherte er. ‹Aber lieber ist es mir auf die andere Art.›
‹Wirklich, Mr. Royden, ich weiß nicht …›
‹Wenn ich Sie so gemalt habe›, sprach er weiter, ‹müssen wir ein paar Wochen warten, bis die Farbe getrocknet ist. Dann sitzen Sie mir wieder Modell, diesmal in Unterwäsche. Und wenn das trocken ist, kommt das Kleid an die Reihe. Eine ganz einfache Sache, nicht wahr?›»
«Der Kerl ist ein Gauner!», rief ich empört.
«Nein, Lionel, nein, du verkennst ihn! Du hättest ihn nur hören sollen. So bezaubernd, so aufrichtig und ehrlich. Ich bin sicher, dass ihm alles, was er sagte, wirklich von Herzen kam.»
«Ein Gauner ist er, Gladys, weiter nichts!»
«Sei nicht albern, Lionel. Lass mich doch erst einmal zu Ende erzählen. Ich wandte natürlich sofort ein, dass mein Mann (der damals noch lebte) so etwas nie gestatten würde.
‹Ihr Gatte braucht das überhaupt nicht zu erfahren›, antwortete er. ‹Weshalb wollen Sie ihn damit behelligen? Niemand kennt mein Geheimnis, niemand außer den Frauen, die ich gemalt habe.›
Ich protestierte noch ein bisschen, und da sagte er: ‹Meine liebe Lady Ponsonby, daran ist wirklich nichts Unmoralisches. Kunst ist nur dann unmoralisch, wenn Stümper sie ausüben. Es ist genauso wie in der Medizin. Sie würden sich doch wohl nicht weigern, sich vor einem Arzt zu entkleiden, nicht wahr?›
Ich erwiderte, dass ich mich bestimmt weigern würde, wenn es sich um einen Ohrenarzt handelte. Darüber musste er lachen. Aber er redete mir unentwegt zu, und zwar sehr überzeugend. So gab ich denn schließlich nach, und damit hatte es sich. Jetzt kennst du also das Geheimnis, Lionel, mein Liebling.» Sie stand auf, um sich noch einen Cognac zu holen.
«Gladys, das kann doch nicht wahr sein!»
«Warum denn nicht?»
«Soll das heißen, dass er alle seine Modelle so malt?»
«Ja. Und der Witz ist, dass die Ehemänner keine Ahnung davon haben. Alles, was sie sehen, ist ein nettes, vollständig bekleidetes Porträt ihrer Frau. Natürlich sind Aktbilder nicht im Geringsten anstößig. Jeder Künstler malt so etwas. Aber unsere kindischen Ehemänner können das eben nicht verstehen.»
«Mein Gott, der Mann hat Nerven!»
«Er ist ein Genie.»
«Ich wette, er hat die Idee von Goya.»
«Unsinn, Lionel.»
«Doch, ganz bestimmt. Hör mal, Gladys, etwas würde mich noch interessieren. Hast du von dieser … dieser sonderbaren Technik gewusst, bevor du zu Royden gingst?»
Als ich die Frage stellte, wollte Gladys gerade den Cognac eingießen. Sie hielt inne, wandte den Kopf und sah mich an. Um ihre Mundwinkel spielte ein geschmeidiges kleines Lächeln. «Zum Teufel mit dir, Lionel», sagte sie. «Du bist viel zu schlau. Du lässt einem auch gar nichts durchgehen.»
«Also hast du’s gewusst?»
«Natürlich, Hermione Girdlestone hat es mir erzählt.»
«Das habe ich mir ja gleich gedacht.»
«Na und? Was ist denn dabei?»
«Nichts», versicherte ich. «Überhaupt nichts.» Jetzt war mir alles klar. Dieser Royden war wirklich ein Gauner und bediente sich des geschicktesten psychologischen Tricks, von dem ich je gehört hatte. Der Kerl wusste nur zu gut, dass es in London eine Menge reicher Nichtstuerinnen gab, die mittags erst aufstanden und sich die Zeit bis zur Cocktailstunde mit Bridge, Canasta und Einkäufen vertrieben. Alles, wonach sie verlangten, war ein bisschen Aufregung, eine kleine Sensation – je teurer, desto besser. O ja, wenn es im Atelier des Malers so unterhaltsam zuging, dann hatte sich diese Nachricht zweifellos schneller als die Pocken unter den Frauen verbreitet. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sich die große, dicke Hermione Girdlestone über den Canasta-Tisch beugte und begeistert erzählte: «Aber, meine Liebe, es ist einfach faszinierend … Du glaubst gar nicht, wie aufregend es ist … Viel amüsanter, als wenn man zum Arzt geht …»
«Du behältst es doch für dich, Lionel, nicht wahr? Du hast es versprochen.»
«Ja, natürlich. Aber jetzt muss ich gehen, Gladys. Wirklich.»
«Sei nicht albern. Ich fange gerade an, mich wohl zu fühlen. Warte doch wenigstens, bis ich ausgetrunken habe.»
Ich blieb geduldig auf dem Sofa sitzen, während sie sich mit ihrem Cognac beschäftigte. Die kleinen, in Fett eingebetteten Augen beobachteten mich wieder in dieser boshaft lauernden Art von der Seite. Ich hatte das deutliche Gefühl, dass Gladys noch mehr unangenehme oder skandalöse Dinge in petto hatte. Ihr Blick erinnerte mich an den einer Schlange, und ihre Lippen kräuselten sich ganz eigenartig. Vielleicht war es nur Einbildung, aber ich glaubte, Gefahr zu wittern.