»Ich weiß. Das ist es ja, was mich beunruhigt.«
»Was besagt denn nun die Inschrift?«
Seufzend wandte sich Sylveste wieder dem Obelisken zu. Er hatte gehofft, die Ablenkung würde seinem Unterbewusstsein etwas Muße verschaffen, um sich mit dem Text zu beschäftigen und ihm eine klare Lösung zu präsentieren. Auf diese Weise hatte er damals vor der Expedition zu den Schleierwebern eins der psychologischen Rätsel gelöst. Aber diesmal verweigerte sich die Erkenntnis hartnäckig; die Schriftzeichen ergaben immer noch keinen Sinn. Vielleicht machte er sich auch falsche Hoffnungen. Er hatte eine gewaltige Offenbarung erwartet, etwas, das seine Vorstellungen in ihrer ganzen Grausamkeit bestätigte.
Aber die Schrift war offenbar nur zum Andenken eingeritzt worden — an eine Begebenheit, die in der Geschichte der Amarantin eine große Rolle gespielt haben mochte, aber — gemessen an seinen Erwartungen — sicher in höchstem Maße provinziell war. Um ganz sicher sein zu können, wäre eine umfassende Computeranalyse erforderlich, und er konnte nur etwa einen Meter Text ganz oben lesen — aber schon spürte er eine lähmende Enttäuschung. Wofür der Obelisk auch stand, für ihn war es nicht mehr von Interesse.
»Es ist ein Bericht«, sagte Sylveste. »Über eine Schlacht vielleicht oder die Erscheinung eines Gottes. Das ist alles — ein Gedenkstein. Wenn wir ihn ausgraben und das Alter der Kontextschicht bestimmen, wissen wir sicher mehr. Wir können auch eine Trapped Electron-Messung vornehmen, das heißt, den Fund auf die Anzahl gefangener Elektronen untersuchen.«
»Es ist nicht das, wonach Sie suchen, nicht wahr?«
»Eine Weile dachte ich, es wäre so.« Sylveste schaute zum untersten Rand der freigelegten Obeliskenfläche. Der Text endete wenige Zentimeter über der obersten Verkleidungsschicht, danach begann ein neuer Abschnitt, der sich weiter fortsetzte, als er sehen konnte. Es war eine Art Diagramm — aber nur die obersten Bögen mehrerer konzentrischer Kreise waren zu erkennen. Was mochte das sein?
Sylveste konnte — wollte — keine Vermutungen anstellen. Der Sturm wurde heftiger. Jetzt waren gar keine Sterne mehr zu sehen, nur eine einzige alles verhüllende Staubwand raste über sie hinweg wie ein riesiger Fledermausflügel. Wenn sie den Schacht verließen, kämen sie direkt in die Hölle.
»Ich brauche etwas zum Graben«, sagte er. Und dann begann er, den Permafrost-Boden über der obersten Sarkophagschicht wegzukratzen. Er arbeitete so hastig wie ein Gefangener, der sich bis zum nächsten Morgen einen Tunnel aus seiner Zelle scharren wollte. Augenblicke später packten auch Pascale und der Student mit an. Über ihnen heulte der Sturm.
»Ich weiß nicht mehr viel«, sagte der Captain. »Kreisen wir noch um Bloater?«
»Nein«, sagte Volyova und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ihm das schon ein Dutzend Mal erklärt hatte, jedes Mal wenn sie sein Gehirn erwärmte. »Wir haben Kruger 60 A vor einigen Jahren verlassen, nachdem uns Hegazi das Eis für die Abschirmung besorgt hatte.«
»Aha. Wo sind wir dann?«
»Auf dem Weg nach Yellowstone.«
»Wozu das denn?« Die Bass-Stimme des Captains drang grollend aus den Lautsprechern, die in einiger Entfernung von seinem Leichnam aufgestellt waren. Komplexe Algorithmen tasteten seine Hirnströme ab, übersetzten das Ergebnis in Sprache und ergänzten die Antworten, wo es nötig war. Er hatte eigentlich kein Recht, bei Bewusstsein zu sein — an sich erloschen sämtliche Neuralaktivitäten, wenn die Temperatur im Körperinnern unter den Gefrierpunkt fiel. Aber sein Gehirn war mit winzigen Maschinen durchsetzt und bei weniger als einem halben Kelvin über dem absoluten Nullpunkt dachten eigentlich nur noch diese Maschinen.
»Eine gute Frage«, sagte sie. Etwas störte sie, irgendeine Kleinigkeit, die nicht nur mit diesem Gespräch zusammenhing. »Der Grund, weshalb wir Yellowstone anfliegen…«
»Ja?«
»Sajaki glaubt, dort gäbe es einen Mann, der Ihnen helfen kann.«
Der Captain überlegte. Sie hatte auf ihrem Armband eine Karte seines Gehirns: ein Getümmel von Farben, als stießen Soldaten auf einem Schlachtfeld aufeinander. »Der Mann muss Calvin Sylveste sein«, sagte der Captain.
»Calvin Sylveste ist tot.«
»Dann der andere. Dan Sylveste. Ist das der Mann, den Sajaki sucht?«
»Ich wüsste nicht, wer es sonst sein könnte.«
»Er wird nicht freiwillig kommen. Genauso wenig wie beim letzten Mal.« Schweigen trat ein; eine Schwankung in der Quantentemperatur hatte den Captain unter die Bewusstseinsschwelle zurückgestoßen. »Das muss auch Sajaki klar sein«, sagte er, als er wieder zu sich kam.
»Ich bin überzeugt, dass Sajaki alle Möglichkeiten in Erwägung gezogen hat.« Volyovas Tonfall verriet ganz deutlich, wie wenig sie davon tatsächlich überzeugt war. Aber sie würde sich hüten, ausdrücklich etwas gegen den anderen Triumvir zu sagen. Sajaki war immer der engste Vertraute des Captains gewesen — als Volyova zur Besatzung gestoßen war, hatten sich die beiden schon seit Ewigkeiten gekannt. Soweit sie wusste, sprach niemand außer ihr jemals mit dem Captain — auch Sajaki nicht. Die anderen wussten nicht einmal, dass es diese Möglichkeit gab. Aber wozu ein unnötiges Risiko eingehen — auch wenn der Captain ein notorisch schlechtes Gedächtnis hatte.
»Irgendetwas bedrückt Sie, Ilia. Sie können sich mir ruhig anvertrauen. Ist es Sylveste?«
»Ein eher häusliches Problem.«
»Also etwas an Bord?«
Volyova wusste, dass sie sich nie ganz an diese Visiten gewöhnen würde, aber in den letzten Wochen hatten sie doch einen Anflug von Normalität bekommen. Als wäre es nur eine unangenehme, aber unvermeidliche Pflicht, einen kryogekühlten Leichnam zu besuchen, das Opfer einer in ihrer Ausbreitung gebremsten, aber irgendwann alles verzehrenden Seuche; ein Aspekt des Lebens, der keinem Menschen ganz erspart blieb. Doch jetzt trieb sie die Beziehung noch einen Schritt weiter — gleich würde sie genau das Risiko eingehen, das sie gehindert hatte, ihre Bedenken bezüglich Sajakis zu äußern.
»Es geht um den Feuerleitstand«, sagte sie. »Sie erinnern sich doch, nicht wahr? Der Raum, von dem aus die Waffen im Geschützpark gesteuert werden.«
»Ich denke schon, ja. Was ist damit?«
»Ich hatte einen neuen Mann zum Waffenoffizier ausgebildet; er sollte den Kampfsitz einnehmen und über seine Neuralimplantate mit den Waffen im Geschützpark in Verbindung treten.«
»Wer war dieser neue Mann?«
»Er hieß Boris Nagorny. Nein; sie kennen ihn nicht — er kam erst vor kurzem an Bord, und ich habe ihn von den anderen so weit wie möglich ferngehalten. Und natürlich konnte ich ihn auch nicht mit hierher bringen.« Die Seuche des Captains hätte schließlich auf Nagornys Implantate übergreifen können, wenn sich die beiden zu nahe gekommen wären. Volyova seufzte. Sie näherte sich dem kritischen Punkt ihres Geständnisses. »Nagorny war immer etwas labil, Captain. Ein Borderline-Psychopath war für mich in vieler Hinsicht nützlicher als ein geistig völlig normaler Mensch — jedenfalls dachte ich das damals. Aber ich hatte Nagornys Psychose unterschätzt.«
»Hat sich sein Zustand verschlimmert?«
»Bald nachdem ich ihm die Implantate eingesetzt und ihm erstmals erlaubt hatte, die Verbindung zum Leitstand herzustellen, fing er an, über Albträume zu klagen. Schwere Albträume.«
»Der arme Junge ist zu bedauern.«
Volyova verstand. Verglichen mit dem, was der Captain durchgemacht hatte — und immer noch durchmachte —, mussten ihm die Albträume der meisten Menschen wie sanfte Phantasmagorien vorkommen. Man konnte darüber streiten, ob er Schmerzen empfand oder nicht, aber was bedeuteten schon Schmerzen, wenn man wusste, dass man bei lebendigem Leibe von etwas unbeschreiblich Fremdartigem aufgefressen — und zugleich verwandelt wurde?