Ein dichter Wald aus buckligen, ineinander verfilzten Gebäuden erstreckte sich nach allen Seiten, so weit das Auge reichte, und verlor sich schließlich im Nebel. Die ältesten Bauwerke waren noch mehr oder weniger intakt. Den rechteckigen Kästen hatte auch die Seuche nichts anhaben können, weil sie keinerlei Systeme zur Autoreparatur oder Umgestaltung besaßen. Dagegen muteten die modernen Bauten wie bizarre, auf den Kopf gestellte Holztrümmer oder wie verkrümmte alte Bäume im letzten Stadium der Fäulnis an. Ursprünglich waren es symmetrische Wolkenkratzer gewesen, die senkrecht in den Himmel ragten, doch dann hatte sie die Seuche zu ungezügeltem Wachstum angeregt, sie entwickelten knollenförmige Geschwülste und krankhafte Wucherungen, die sich zu einem heillosen Wirrwarr verschlangen. Jetzt waren sie alle tot, in Formen erstarrt, die es geradezu darauf anlegten, Unbehagen zu verbreiten. Ringsum waren Elendsviertel entstanden, die unteren Etagen verschwanden in einem Gewirr von windschiefen Baracken und baufälligen Läden, in denen offene Feuer flackerten. Dazwischen bewegten sich winzige Gestalten. Fußgänger und Rikschafahrer gingen auf Straßen, die man willkürlich über die Ruinen gelegt hatte, ihren zwielichtigen Geschäften nach. Kraftfahrzeuge gab es kaum, und was Khouri an Maschinen sah, wurde offenbar noch mit Dampf betrieben.
Die Slums krochen nie weiter als bis zum zehnten Stockwerk an einem Gebäude hinauf, dann brachen sie unter ihrem eigenen Gewicht zusammen. Darüber zeigten sich die Mauern der Hochhäuser zwei- bis dreihundert Meter weit glatt und vergleichsweise frei von krankhaften Verformungen. In diesem Mittelbereich war die Stadt allem Anschein nach unbewohnt. Erst ganz oben hatten die Menschen wieder ihre Spuren hinterlassen: zwischen knorrigen Gebäudeästen klebten terrassenförmige Gebilde wie Storchennester. Erleuchtete Wohnungsfenster und Neonreklamen verkündeten protzig den Reichtum und die Macht der Bewohner. Auf den Dächern montierte Scheinwerfer suchten die Umgebung ab und erfassten hin und wieder winzige Seilbahngondeln auf ihrer Fahrt zwischen den Stadtteilen. Die Gondeln suchten sich ihren Weg durch ein Netz aus feinsten Ästen, das die Gebäude wie mit synaptischen Fäden umspann. Die Einheimischen hatten auch für diese Stadt über der Stadt einen Namen: sie hieß der Baldachin.
Khouri hatte festgestellt, dass es in Chasm City niemals richtig Tag wurde. Die Stadt war in einer ewigen Dämmerung gefangen, in der man sich nie richtig wach fühlte.
»Kiste, wann kratzen sie denn nun endlich den Dreck vom Moskitonetz ab?«
Ng lachte leise, es klang, als würden Kieselsteine in einem Eimer umgerührt. »Wahrscheinlich nie. Es sei denn, jemand hätte eine Idee, wie man den Dreck zu Geld machen könnte.«
»Und wer zieht jetzt über die Stadt her?«
»Wir können uns das leisten. Wenn wir unseren Auftrag hier erledigt haben, kehren wir schleunigst auf die Karusselle mit ihren vielen schönen Menschen zurück.«
»Die sich in Kästen verkriechen. Tut mir Leid, Kiste, aber diese Party schenke ich mir. Die Aufregung könnte mich töten.« Die Gondel fuhr jetzt dicht am abfallenden Innenrand der ringförmigen Kuppel entlang, so dass sie in den Abgrund sehen konnte, ein tiefes Loch im Muttergestein. Die verwitterten Seitenwände wölbten sich zunächst nur kaum merklich abwärts, um dann senkrecht in die Tiefe zu stürzen. Viele Rohre führten in die brodelnde Gasküche hinab. Dort befand sich die Atmosphäretransformationsanlage, die die Stadt mit Wärme und Luft versorgte. »Wenn wir schon beim Thema sind… beim Thema Töten, meine ich — was sollte das mit der Waffe?«
»Glaubst du, du kommst damit zurecht?«
»Du zahlst und ich komme zurecht. Aber ich wüsste gerne, womit ich es zu tun habe.«
»Wenn du Bedenken hast, solltest du mit Taraschi reden.«
»Er hat das Ding verlangt?«
»Bis in die kleinsten Einzelheiten.«
Die Gondel befand sich jetzt über dem Denkmal für die Achtzig. Khouri hatte es noch nie aus diesem Blickwinkel gesehen. Von der Straße aus strahlte es würdevolle Erhabenheit aus, aber von oben wirkte es stark verwittert, ein eher trauriger Anblick. Von der Form her war es eine vierseitige Pyramide, die man mit schmalen Simsen zum Stufentempel aufgerüstet hatte. Der untere Teil verschwand hinter einem Ekzem aus Baracken und Armierungen. Unterhalb der Spitze waren Buntglasscheiben in die Marmorverkleidung eingelassen, aber das Glas war zum Teil zerbrochen und durch Blech ersetzt. Von der Straße aus waren die Schäden nicht zu sehen. Hier also sollte der Abschuss stattfinden. Es war ungewöhnlich, den Schauplatz im Voraus zu kennen, aber vielleicht hatte dieser Taraschi auch das in seinem Kontrakt ausdrücklich vermerkt. Im Allgemeinen unterschrieb man einen Kontrakt mit den Schatten nur dann, wenn man sich gute Chancen ausrechnete, ihrem Attentäter über die vertraglich festgelegte Zeitspanne hinaus entkommen zu können. Auf diese Weise bekämpften die praktisch unsterblichen Reichen die Langeweile, zwangen sich selbst, die eingefahrenen Geleise zu verlassen — und hatten etwas, womit sie prahlen konnten, wenn sie, was meistens der Fall war, den Kontrakt überlebten.
Khouri konnte ihre Verbindung zu den Schatten sehr genau datieren. Sie war an dem Tag in die Organisation eingetreten, als sie im Orbit um Yellowstone in einem vom Eisbettelorden betriebenen Karussell reanimiert wurde. Obwohl es um Sky’s Edge keine Vertreter dieses Ordens gegeben hatte, hatte sie schon von ihm und seiner Funktion gehört. Es handelte sich um eine religiös geprägte Gemeinschaft von Freiwilligen, die es übernommen hatten, all jene zu betreuen, die bei der Durchquerung des interstellaren Raumes ein irgendwie geartetes Trauma erlitten hatten. Die Reanimations-Amnesie, eine häufige Nebenwirkung des Kälteschlafs, war ein solches Trauma.
Darunter zu leiden wäre an sich schon schlimm genug gewesen. Manchmal war der Gedächtnisverlust so schwer, dass Jahre des früheren Lebens wie ausgelöscht waren. Khouri wusste nicht einmal mehr, dass sie einen Interstellarflug angetreten hatte. Doch ihre letzten Erinnerungen waren sogar recht detailliert. Sie hatte auf Sky’s Edge in einem Sanitätszelt neben Fazil, ihrem Mann, in einem Bett gelegen. Beide waren bei einem Feuerwehreinsatz verletzt worden; ihr Zustand war nicht lebensbedrohend, aber ihre Brandwunden ließen sich am besten in einem der Orbithospitäler behandeln. Ein Pfleger war gekommen und hatte ihnen erklärt, sie seien für einen kurzen Kälteschlaf eingeteilt. Man wolle sie herunterkühlen, mit einem Shuttle in den Orbit bringen und dort in einem Kälteschlaftank so lange Zwischenlagern, bis auf dem Operationsplan des Hospitals ein Platz frei würde. Das könne Monate dauern, aber der Pfleger versicherte ihnen lächelnd, aller Voraussicht nach sei der Krieg noch nicht zu Ende, wenn sie wieder einsatzfähig wären. Khouri und Fazil hatten ihm vertraut. Schließlich waren sie beide Berufssoldaten.
Als Khouri nach der Reanimation erwachte, lag sie nicht auf der Genesungsstation des Orbithospitals. Stattdessen sah sie sich mit Angehörigen des Eisbettelordens konfrontiert, die mit Yellowstone-Akzent auf sie einredeten. Nein, erklärten sie. Sie leide nicht unter Gedächtnisschwund. Und sie habe auch keine anderen Kälteschlafschäden erlitten. Es sei wesentlich schlimmer.