Выбрать главу

Sie hatte sogar daran gedacht, Nagornys Kopf mit der Laserkürette abzutrennen. Sie musste ihm den Schädel öffnen, um die hochspezialisierten Implantate aus seinem Gehirn entfernen zu können. Die Implantate waren sehr empfindlich. Sie hatte sie mit komplizierten molekularen Interventionsverfahren selbst gezüchtet und wollte möglichst vermeiden, sie kopieren zu müssen.

Jetzt war es an der Zeit, mit der Operation zu beginnen.

Sie nahm den Kopf aus dem Helm und legte ihn in ein Bad aus flüssigem Stickstoff. Dann fuhr sie in zwei motorisierte Handschuhe, die in einer Halterung über der Werkbank schwebten. Blanke chirurgische Instrumente in Miniaturausführung erwachten mit leisem Schwirren zum Leben und senkten sich herab, um Teile aus der Schädeldecke zu schneiden, die sich hinterher mit absoluter Präzision wieder einpassen ließen. Doch bevor Volyova den Kopf wieder zusammensetzte, wollte sie Ersatzimplantate einpflanzen, damit sich — sollte er jemals untersucht werden — nicht sofort feststellen ließe, dass sie etwas herausgenommen hatte. Sie musste ihn auch wieder am Körper befestigen — aber das war wohl kein allzu großes Problem. Wenn die anderen erfuhren, was mit Nagorny geschehen war — wenn sie ihnen ihre Version der Geschichte glaubhaft machen konnte — würden sie wohl nicht auf einer allzu gründlichen Untersuchung bestehen. Nur Sudjic könnte Schwierigkeiten machen — sie und Nagorny waren ein Liebespaar gewesen, bevor Nagorny den Verstand verlor.

Doch diese Brücke wollte Ilia Volyova erst überschreiten, wenn die Zeit dafür gekommen war — so hatte sie es immer gehalten.

Während sie tief in Nagornys Gehirn eindrang, um sich zurückzuholen, was ihr gehörte, machte sie sich erstmals Gedanken darüber, wer ihn ersetzen sollte.

Sicher niemand aus der derzeitigen Mannschaft.

Aber vielleicht fand sich vor Yellowstone ein geeigneter Kandidat.

»Kiste, wird es allmählich heiß?«

Die Stimme drang schrill und verzerrt von oben durch die Gebäudemassen. »So heiß, dass wir uns gleich die Finger verbrennen, liebes Kind. Halt durch und gib Acht, dass du keine Giftpfeile verschwendest.«

»Kiste, darüber wollte ich noch…«

Khouri sprang zur Seite, als drei Neue Komuso-Mönche mit korbähnlichen Weidenhelmen auf dem Kopf an ihr vorbeimarschierten und ihre Bambusflöten — Shakuhachi genannt — so zackig schwangen wie die Majoretten ihre Taktstöcke. Eine Horde Kapuzineräffchen stob auseinander und verschwand in den Schatten. »Ich meine«, fuhr sie fort, »wenn ich nun einen unbeteiligten Zuschauer treffe?«

»Ausgeschlossen«, sagte Ng. »Das Gift ist genau auf Taraschis Biochemie abgestimmt. Wenn du einen anderen Menschen auf diesem Planeten triffst, hat er hinterher nur eine hässliche Stichwunde.«

»Gilt das auch für Taraschis Klon?«

»Hältst du für möglich, dass er einen hat?«

»Ich frage ja nur.« Kiste war heute ungewöhnlich nervös.

»Selbst wenn Taraschi einen Klon hätte und wir ihn versehentlich töteten, wäre das immer noch Taraschis und nicht unser Problem. Das steht alles im Kleingedruckten. Solltest du mal lesen.«

»Bevor ich vor Langeweile umkomme«, sagte Khouri, »mache ich das vielleicht.«

Dann erstarrte sie, denn mit einem Schlag hatte sich alles verändert. Ng war verstummt, und statt seiner Stimme hörte sie einen klaren, pulsierenden Ton, leise und unheimlich wie das Impulsecho bei der Anpeilung eines großen Raubtiers. Sie hatte diesen Ton in den letzten sechs Monaten ein Dutzend Mal gehört, jedes Mal hatte er sie darauf hingewiesen, dass sie sich in unmittelbarer Nähe ihres Zielobjekts befand. Das bedeutete, dass Taraschi nicht mehr als fünfhundert Meter entfernt war. Sie durfte also getrost davon ausgehen, dass er sie im Innern des Denkmals erwartete.

Bei den letzten Zügen des Spiels war die Öffentlichkeit zugelassen. Das wusste sicher auch Taraschi, denn ein identisches Implantat — eingesetzt in einer geheimen Klinik des Baldachins — erzeugte in seinem Kopf die gleichen Impulse. Überall in Chasm City schickten in diesem Moment die verschiedenen Nachrichtensender, die sich für die Schatten interessierten, ihre Außenteams quer durch die Stadt zum Schauplatz. Ein paar Glückliche waren sicher bereits in der Nähe.

Die Töne beschleunigten sich nur mäßig, als sie auf der Promenade unter dem Denkmal weiterging. Taraschi war wohl genau über ihr — im Innern des Denkmals so dass sich die relative Entfernung zwischen ihnen nur langsam veränderte.

Die Promenade zeigte tiefe Risse. Sie lag gefährlich dicht am Abgrund und der Untergrund hatte sich gesenkt. Ursprünglich hatte sich darunter ein Einkaufszentrum befunden, aber das hatte der Mulch erobert. Die untersten Etagen waren überschwemmt. Aus dem karamellbraunen Wasser ragten stellenweise noch die Gehwege hervor. Das tetraederförmige Denkmal stand hoch über der Promenade und dem überfluteten Einkaufszentrum auf einer kleineren, auf die Spitze gestellten Pyramide, die tief im Felsboden verankert war. Es gab nur einen Eingang. Das bedeutete, Taraschi war schon so gut wie tot, wenn sie ihn im Innern erwischte. Doch um zum Eingang zu kommen, musste sie eine Brücke über das Einkaufszentrum überqueren, und dabei konnte er sie von innen beobachten. Welche Urgefühle mochten ihn in diesem Moment bewegen? Khouri träumte oft davon, wie sie von einem unerbittlichen Verfolger durch eine halb verlassene Stadt gejagt wurde, doch für Taraschi war dieser Albtraum Wirklichkeit. Der Verfolger in ihren Träumen brauchte sich nie zu beeilen, fiel ihr plötzlich ein. Nicht zuletzt deshalb waren sie so unheimlich. Sie rannte aus Leibeskräften, die Luft war zäh wie Gummi, und ihre Beine waren schwer wie Blei, aber der Verfolger bewegte sich mit einer Ruhe, die von unendlicher Geduld und Weisheit zeugte.

Die Töne wurden schneller, als sie die Brücke überquerte. Der Boden war nass und rau. Manchmal verlangsamte sich das Signal und beschleunigte wieder, ein Zeichen dafür, dass Taraschi im Innern des Gebäudes umherging. An Flucht brauchte er jetzt freilich nicht mehr zu denken. Er konnte es vielleicht einrichten, dass sie auf dem Dach des Denkmals zusammentrafen, aber ein Flugzeug durfte er nicht benutzen, wollte er nicht gegen die Bedingungen des Kontrakts verstoßen. Und mit dieser Schande in die Salons des Baldachins zurückzukehren wäre schlimmer als der Tod.

Sie betrat das Atrium im Innern der Stützpyramide. Drinnen war es dunkel, und sie wartete, bis ihre Augen sich darauf eingestellt hatten. Dann zog sie das Giftgewehr aus dem Mantel und warf einen prüfenden Blick zum Ausgang, für den Fall, dass Taraschi auf die Idee käme, sich davonzustehlen. Sie war nicht überrascht, dass er nicht da war. Das Atrium war fast leer, Plünderer hatten hier gehaust. Der Regen trommelte auf Metall. Sie blickte auf. Eine Schar rostiger, verbogener Skulpturen hing an Kupferdrähten von der Decke. Einige waren auf den Zementboden gefallen. Metallene Vogelflügel waren darin stecken geblieben. Sie waren mit weißem Staub überpudert, die Deckfedern wie mit Mörtel verklebt.

Sie schaute nach oben.

»Taraschi?«, rief sie. »Hören Sie mich schon? Ich komme.«

Sie wunderte sich, dass die Leute vom Fernsehen noch nicht eingetroffen waren. So kurz vor einem Abschuss standen sie sonst unweigerlich mit Scharen von anderen Zuschauern dicht gedrängt um sie herum und kläfften wie die Bluthunde.

Er hatte nicht geantwortet. Aber sie wusste, dass er sich irgendwo über dieser Decke befand. Sie durchquerte das Atrium und stieg rasch die Wendeltreppe hinauf, die nach oben führte. Dann sah sie sich nach Gegenständen um, die sich noch bewegen ließen, aber groß genug waren, um Taraschi den Fluchtweg zu versperren. An beschädigten Exponaten und Möbeln herrschte kein Mangel. Sie begann, vor der Treppe einen Trümmerberg aufzuschichten. Er würde Taraschi den Ausgang zwar nicht völlig versperren, aber er wäre ein Hindernis und das genügte.