Aber diesmal würde es anders sein. Flint steckte die Hand in die Tasche, um sich zu vergewissern, daß das eine, letzte Spielzeug, das er zurückbehalten hatte, noch da war – ein hölzerner Erbsenschießer.
Die übrigen Kinder waren auseinandergelaufen. Sie rannten zum Essen nach Hause, zu Wildbraten mit Früchtesauce, gebratenem Fisch oder Quith-Pa mit Geflügelbraten. Nur Tanis war noch da. Das Mündel der Stimme saß am Teich. Er hatte die Arme um die Knie geschlungen und das Kinn darauf gelegt und sah Flint mit seinen haselnußbraunen Augen entgegen. Der Halbelf trug ein lockeres, weißes Hemd und braune Wildlederhosen, eine Kleidung, die an die der Que-Shu erinnerte, der Menschen aus den Ebenen. Ganz anders als die fließenden Tuniken und Roben, die die anderen Elfen liebten. Beim Aufstehen bewegte er seinen kräftigen Körper ohne jene gewisse Anmut der anderen Elfen. Tanis strich eine rotbraune Haarsträhne zurück.
»Tanthalas«, sagte Flint mit einem Nicken.
Der Halbelf erwiderte Flints Nicken. »Meister Feuerschmied.«
Sie standen beide da und warteten offenbar darauf, daß der andere anfing.
Schließlich zeigte Flint auf den Teich. »Guckst du den Fischen zu?« fragte er. Genialer Einstieg, dachte er.
Tanis nickte.
»Warum?«
Der Halbelf sah erst überrascht aus, dann nachdenklich. Als er schließlich antwortete, konnte man ihn kaum verstehen. »Sie erinnern mich an jemanden.« Der Halbelf wich seinem Blick aus. Flint nickte. »An wen?«
Tanis blickte mürrisch auf. »Alle hier.«
»Die Elfen?«
Der Halbelf nickte erneut.
»Warum?« fragte Flint wieder nach.
Tanis trat gegen ein Moospolster. »Sie sind mit dem zufrieden, was sie haben. Sie ändern sich nie. Sie gehen hier nur weg, wenn sie sterben.«
»Und du bist anders?« fragte Flint.
Tanis preßte seine Lippen zu einem Strich zusammen. »Eines Tages gehe ich hier weg.«
Flint wartete, ob der Halbelf noch etwas anderes sagen würde, aber Tanis schien die Unterhaltung als beendet zu betrachten. Na schön, dachte Flint, ich versuch’s noch mal. Wenigstens verschwand er nicht im Schatten wie sonst. »Wie war die Bogenstunde heute?« fragte der Zwerg.
»Gut.« Die Stimme des Jungen zeigte keine Regung, und seine Augen richteten sich wieder auf den Teich. In der Ferne war fröhliches Kinderlärmen zu hören. »Es waren alle da – Tyresian und Porthios und seine Freunde«, fügte er hinzu.
Das klang wirklich begeistert, wenn man bedachte, wie Porthios’ Freunde dem Halbelf gegenüber eingestellt waren. Flint fragte sich, wie er das Ziehkind der Stimme aufheitern könnte. »Es ist Zeit zum Essen«, sagte er und dachte dabei: Brillante Gesprächsführung, Meister Feuerschmied. Was hatte der Kerl bloß an sich, das ihm einfach die Sprache verschlug?
Tanis lächelte dünn und stimmte zu. Ja, es war wirklich Essenszeit. Der Halbelf ging drei Schritte weiter, um sich wieder an seinen Birnbaum zu lehnen.
Flint versuchte es noch einmal. »Hast du Lust, mit mir…« – Was bot man Elfenkindern an? Mit seinen dreißig Jahren wäre Tanis unter Menschen ein junger Mann, aber ein dreißig Jahre alter Elf würde erst Jahre später als erwachsen gelten – »… zu essen?«
»Gibt es etwa auch Elfenblütenwein?« fragte der Halbelf.
Flint fragte sich, ob das Mündel der Stimme ihn verspottete. Der Zwerg hatte gelernt, das duftende Getränk zu trinken, ohne zu würgen – bei Staatsakten zum Beispiel, wenn das Trinken von Elfenwein zum Protokoll gehörte. »Oh, beim Barte Reorx’«, murmelte Flint erschauernd.
Tanis betrachtete Flint, wobei immer noch die Andeutung eines Lächelns um seine Lippen spielte. »Ihr mögt den Wein nicht«, sagte der Halbelf endlich.
»Stimmt nicht. Ich hasse ihn.«
»Warum trinkt Ihr ihn dann?« fragte Tanis.
Flint sah den Halbelf eindringlich an. Er schien es wirklich wissen zu wollen. »Als Fremder versuche ich, mich hier anzupassen.«
Irgendwo weiter entfernt begleitete ein lautes Kinderlachen den schrillen Ton einer Holzpfeife. Wenigstens in einem Haus würden die Eltern heute abend nicht gut auf Flint zu sprechen sein. Tanis lachte höhnisch. »Versucht Ihr etwa, ›einer von den Elfen‹ zu sein?« fragte er fast verächtlich.
Flint überlegte. »Tja…«, meinte er, »wenn du in Qualinost bist, dann halt es mit den Qualinesti. Das hat meine Mutter immer gesagt, oder wenigstens so ähnlich.« Ihm stieg Wildbretduft in die Nase, doch er blieb noch stehen. Ach, wie er sich nach seinem Abendessen sehnte. Ach, wie er wünschte, er hätte diese Unterhaltung nie angefangen. Der Halbelf grinste immer noch höhnisch, doch auf einmal hatte der Zwerg den Eindruck, daß dieses Grinsen vielleicht nicht auf ihn, sondern auf Porthios und Tyresian und die anderen gemünzt war. »Laßt es, Meister Feuerschmied«, sagte Tanis.
»Was?« fragte Flint.
Tanis pflückte eine halbreife Birne vom Baum, ließ sie ins Moos fallen und zerquetschte sie mit dem Absatz seines gefetteten Ledermokassins. »Laßt es. Sie werden Euch nie akzeptieren. Sie akzeptieren niemanden, der nicht genauso ist wie sie.« Er trat die Frucht zur Seite und stapfte ohne ein weiteres Wort davon. Bald verlor sich seine Gestalt zwischen den Bäumen.
Flint ging langsam zu seinem Laden zurück, machte die Tür zu und warf den leeren Sack in den Schrank. Irgendwie war ihm der Appetit vergangen.
4
Eine Lektion
Tanis schlurfte über die blau-weißen Pflastersteine in der Straße vor Flints Geschäft. Er verfluchte sich für seine Dämlichkeit. Warum war er so kurz angebunden gewesen? Flint Feuerschmied hatte gewiß die besten Absichten gehabt; warum hatte der Halbelf nicht angemessen reagiert?
Tanis hatte nicht auf den Weg geachtet und stellte irgendwann fest, daß er durch den Himmelssaal in der Mitte von Qualinost lief. In den Pflastersteinen des offenen Platzes sah man auch jetzt in der Dämmerung noch das Mosaik, das den Teil von Ansalon zeigte, der die Elfenstadt umgab. Die Karte stellte alle Länder von Solace und dem Krystalmirsee im Nordwesten, über Que-Shu im Nordosten und Pax Tarkas im Süden dar. Der Halbelf jedoch starrte nur auf einen Punkt auf der Karte: Solace, die Wahrheit des Zwergs. Was für ein Ort mochte das sein?
»Stell dir bloß vor, in einem Baumhaus zu leben«, sagte er. Sein Flüstern verklang in der Stille, die über dem verlassenen Platz lag. Er dachte an die Steinhäuser der Elfen, die nie ganz ihre Kälte verloren. Würde ein Holzhaus in einem Baum richtig warm sein?
Er trat gegen einen losen Stein, der den Ort Torweg zwischen Qualinost und Solace markierte. Verlegen und in der Hoffnung, daß niemand mitbekommen hatte, wie er die geheiligte Karte behandelte, sprang er dem Steinchen hinterher und kniete sich hin, um es wieder einzusetzen. Dann hockte er sich hin und sah über den offenen Platz.
Die kühle Luft der Dämmerung trug köstliche Essensdüfte und Gesprächsfetzen heran. Tanis stand langsam auf und sah sich im Himmelssaal um. Um ihn herum stachen die lila Quarzspitzen der Elfenhäuser mit erleuchteten Rechtecken in den abgerundeten Seiten wie die Schnäbel junger Vögelchen aus den runden Baumkronen hervor. Von den Brückenbögen umgeben und mit dem hohen Sonnenturm in der Mitte, dessen Gold immer noch die abendlichen Sonnenstrahlen zurückwarf, war die Stadt wirklich ein beeindruckender Anblick. Wie verständlich, daß die Qualinesti-Elfen sie für die schönste Stadt der Welt hielten. Aber daß die Elfen es aushalten konnten, am selben Platz geboren zu werden und zu sterben?
Tanis fragte sich, ob seine Unzufriedenheit von seinem Vater stammte. Von seiner menschlichen Seite.
Er erhob seinen Blick zum Abendhimmel. Es wurde zusehends dunkler, und direkt über ihm tauchten die ersten Sterne auf. Er dachte über die Legende nach, daß der Himmelssaal einst ein richtiges Gebäude gewesen sein sollte, in dem ein seltener, kostbarer Gegenstand gehütet wurde. Angeblich hatte Kith-Kanan Haus und Gegenstand auf magische Weise in den Himmel gehoben, um beides zu verstecken, und nur die Karte zurückgelassen, die den Fußboden des Hauses gebildet hatte. Als er klein war, hatten ihm die anderen Elfenkinder erzählt, daß der genaue Mittelpunkt der Karte ein »Glückspunkt« sei. Wenn man dort steht und sich etwas ganz fest wünscht, dann bekommt man es auch, hatten sie behauptet.