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»Ich möchte gern an jenen Ort und das Versteck am Himmel sehen«, flüsterte er jetzt inbrünstig. »Ich möchte ganz Ansalon sehen. Ich möchte reisen, wie Flint… und Abenteuer erleben… und Freunde finden…«

Peinlich berührt sah er sich um und hoffte, daß ihn niemand beobachtet hatte. Insgeheim wartete Tanis auf ein magisches Wesen, das plötzlich erschien und ihm seinen Wunsch erfüllte – obwohl er kaum ernsthaft daran glaubte. Selbstverständlich nicht, sagte er sich. Das war ein Kindertraum, nicht der eines jungen Mannes. Dennoch wartete er noch ein paar Minuten, bis der Wind zwischen den Birnbäumen ihm eine Gänsehaut auf den Armen verursachte und ihn nach Hause trieb.

Wo auch immer das sein mochte, dachte er.

»Geschichte«, erklärte Meister Miral Tanis am nächsten Morgen, »ist wie ein breiter Strom.«

Der Halbelf sah auf. Er wußte, es hatte keinen Sinn, den Lehrer zu fragen, was er meinte. Miral würde seine Feststellung entweder erklären oder Tanis auffordern, es selbst herauszufinden. Auf jeden Fall würden Fragen dem Halbelf nur eine abwiegelnde Handbewegung einbringen.

Heute jedoch war der Zauberer in seinen dämmrigen Räumen im Palast der Stimme zum Reden aufgelegt.

»Ein breiter Strom«, wiederholte er. »Es fängt mit kleinen, klaren Bächen an, einzelnen Stimmen, die rasch am Ufer entlangspringen, bis sie ihr Wasser mit anderen vereinigen können und immer größer werden, je mehr sie sich mit anderen vermischen, bis die zarten Stimmen von tausend kleinen Bächen sich zum brüllenden Lied eines großen Flusses vereint haben.« Er holte weit mit den Händen aus, weil er ganz in seiner Metapher versunken war.

»Und?« hakte Tanis nach. Der Halbelf mußte in dem schattigen Raum weit die Augen aufsperren, denn der Zauberer hielt stets alle Fenster zu seinen Zimmern geschlossen. Helles Licht, hatte Miral erklärt, beeinträchtige die Wirkkraft der Kräuter und Gewürze, die die Grundstoffe für die wenige Magie darstellten, die er ausübte. Außerdem tat starkes Licht den fast farblosen Augen des Zauberers weh, die Miral hinter der Kapuze seiner tiefroten Robe verbarg. Tanis hatte sich oft gewundert, warum Solostaran einen Zauberer eingestellt hatte, um seine Kinder zu unterrichten. Ursprünglich hatte Miral Laurana, Gilthanas und Tanis als Schüler gehabt – Porthios war schon zu alt für einen Tutor gewesen, als Miral an den Hof kam. Inzwischen wurde Laurana von einer Elfendame unterrichtet, und Gilthanas und Miral waren von Anfang an nicht miteinander ausgekommen. Der jüngste Sohn der Stimme bekam jetzt nur noch eine Ausbildung im Kampf – von Ulthen, einem Freund von Porthios, der aus guter Familie stammte, jedoch immer in Geldnot war.

Tanis hatte an dem exzentrischen Zauberer Gefallen gefunden und war bei Miral geblieben, weil der einer der wenigen Leute am Hof war, die dem Halbelfen nicht mit eisiger Höflichkeit begegneten. Vielleicht hatte Mirals Verhalten ihm gegenüber damit zu tun, daß der Zauberer Jahre außerhalb von Qualinesti verbracht hatte, überlegte sich Tanis. Miral war zwar ein Elf, war aber nicht unter Elfen aufgewachsen. Ein Grund mehr, Qualinost eines Tages zu verlassen, dachte der Halbelf.

Jetzt zeigte Miral mit seinem knochigen Finger auf Tanis, wobei seine Kapuze etwas zurückrutschte. Seine Wimpern und Brauen waren blond, ebenso wie das schulterlange Haar, das aus der Kapuze drang. Miral mit seinen Bücherregalen, seinen Zaubertränken und der Angewohnheit, sich fit zu halten, indem er spät in der Nacht in den Gängen des Turms auf und ab lief – eine Angewohnheit, die bei den jungen Elfen für viel Gekicher und Geflüster sorgte –, hatte das farblose Aussehen von einem, der zuviel Zeit im Dunkeln verbringt.

»Der breite Strom«, fuhr Miral fort, und Tanis konzentrierte sich wieder auf den Gedankengang seines Lehrers, »fließt seinerseits ins endlose, tiefe Meer. Geschichte ist wie das Meer.«

Der Zauberer lächelte angesichts von Tanis’ Verwirrung, und mit diesem Ausdruck ähnelte Mirals hartes Gesicht dem eines Falken. »Und auch wenn es am einfachsten sein mag, die großen Ozeane und Flüsse zu untersuchen – die Kriege und die großen Ereignisse vergangener Zeiten –, versteht man die Vergangenheit mitunter am besten, wenn man statt dessen den Tönen von wenigen dieser Rinnsale lauscht, den Geschichten der einzelnen Leben, die eins ums andere und Tropfen für Tropfen die Welt zu dem machten, was sie war.«

Eingelullt in die Rhetorik des Zauberer, atmete Tanis das Durcheinander würziger Düfte ein, die aus den verkorkten Behältern in den Regalen entwichen. Er wußte, daß Miral irgendwann zum Kern der Sache kommen würde. Während andere junge Adlige diese Stunden vielleicht gefürchtet hätten, freute sich Tanis stets auf die Zeit mit Miral. Es gab noch andere Fächer neben Geschichte: Schreiben, die Vorgänge am Himmel, die Gewohnheiten und Eigenarten von allem Lebenden. Und das alles interessierte den Halbelfen. »Zum Beispiel«, sagte Miral, während er sich auf ein dickes Kissen setzte, das mit gegerbtem Hirschleder bezogen war, und Tanis zu einem ähnlichen, kleineren, aber nicht weniger bequemen Stuhl an seiner Seite winkte, »habe ich dir schon von Joheric erzählt?«

Als Tanis den Kopf schüttelte, begann der Zauberer mit seiner Geschichte:

»Wie du weißt, Tanis, sind die Elfen die Verkörperung des Guten, denn sie waren die erste Rasse auf Krynn.« Tanis machte den Mund auf, um zu fragen, ob die anderen Rassen auch von sich glaubten, daß sie die ersten waren, aber der Magier brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.

»Die Elfen waren vom Auftauchen des Grausteins weniger betroffen als andere, schwächere Rassen, aber…«

»Erzählt mir vom Graustein«, unterbrach ihn Tanis in der Hoffnung, die Geschichten würden bis zu seiner Bogenstunde bei Tyresian am frühen Nachmittag dauern.

Miral sah ihn grimmig an, und es wurde noch dunkler im Raum, als ob das Licht auf die schlechte Laune des Magiers reagieren würde. »Ich habe dir bereits vom Graustein erzählt. Jetzt…« Die rauhe Stimme des Zauberers nahm den Faden wieder auf. »Wir waren weniger vom Graustein betroffen als andere Rassen, aber dennoch sorgte der Stein – der, wie du weißt, die Verkörperung des Chaos ist – überall für Unruhe, wo er auch hinkam. In Silvanesti, wo ich herkomme…« Das war Tanis neu. Er setzte sich auf und wollte eine Frage stellen, doch bei einem weiteren, strengen Blick des Magiers sackte er wieder in sich zusammen.

»In Silvanesti lebte einst bei der Hauptstadt Silvanost ein Elfenlord mit seinen beiden Kindern, einem Sohn namens Panthell und einer etwas jüngeren Tochter namens Joheric. Wie es damals, vor den Sippenmord-Kriegen, Brauch war, würde der älteste Sohn Titel, Ländereien und Reichtum seines Vaters erben. Die Tochter, Joheric, würde eine ausreichende Mitgift erhalten, um für eine Ehe mit einem jungen Elfenlord interessant zu sein, aber sie würde kein Anrecht auf irgend etwas anderes von den Besitztümern ihres Vaters haben.«

»Wenn man es so darstellt, klingt das ungerecht«, warf Tanis ein.

Miral nickte und zog die Robe fester um die Schultern. »Das fand Joheric auch«, fuhr der Magier fort. »Die Situation machte Joheric zu schaffen, besonders weil es für sie offensichtlich war, daß sie das Erbe mehr verdient hatte. Elfenfrauen lernten damals wie heute den Umgang mit Waffen, auch wenn sie diese – wie heute – dann fast nur bei Zeremonien in die Hand nahmen. Es war doch eher immer schon Aufgabe der Männer, zu kämpfen, wenn es nötig war.

Nun, Joheric war mit dem Schwert so gewandt, daß sie ihren Bruder Panthell bei den Übungskämpfen im Schloß besiegen konnte. Sie war stärker und schlauer als ihr älterer Bruder. Aber weil sie das jüngere Kind war, wußte sie, daß sie wahrscheinlich miterleben würde, wie alles, was ihr zustand, an den Unwürdigeren fiel. Es müßte doch jeder sehen können, überlegte sie, daß Panthell ein schlechter Kämpfer ohne jegliches moralisches Urteilsvermögen war. Sie wußte, daß er sich nicht zu fein zum Stehlen war, daß er gierig und feige war und außerdem nicht übermäßig gescheit.«