Tanis knurrte der Magen, und er blinzelte zu dem Teller mit geröstetem Quith-Pa, den der Zauberer genau außer Reichweite auf einem Tischchen neben den zwei Sitzen stehen hatte. Der Halbelf war am Vorabend zu spät gekommen, um sich noch mit der Familie der Stimme an den Abendbrotstisch zu setzen. Dann hatten ihn Selbstvorwürfe über seine Unterhaltung mit Flint bis in den frühen Morgen beschäftigt, und nachdem er endlich eingeschlafen war, war er zu spät aufgewacht und ohne Frühstück zu Miral geeilt.
Der Zauberer jedoch interpretierte das Magengrummeln und den verlangenden Blick richtig und sagte einen Befehl in einer fremden Sprache, woraufhin der Teller ohne die Hilfe von Elfenhänden quer über den Tisch zu dem Halbelfen rutschte. Tanis dankte ihm, bestrich eine Scheibe Quith-Pa mit Birnenmus und schob sie sich in den Mund.
Miral fuhrt fort. »Joheric wurde immer bitterer bei dem Wissen, daß all ihr Können und all ihre Begabung ihr nichts einbringen würden. Sie sehnte sich danach, in die Schlacht zu ziehen und dem Haus Ehre zu machen. Bald bekam sie im Drachenkrieg dazu Gelegenheit. Der Krieg zog ihren Vater in die Kämpfe hinein, und trotz seines entschiedenen Protests wurde Panthell losgeschickt, sich den anderen Elfensoldaten anzuschließen. Joheric dagegen blieb zu Hause und übte mit dem Schwert und mit dem Bogen, bis sie sicher war, daß sie sich ehrenhaft verteidigen konnte. Aber lange Monate verstrichen ohne eine Nachricht von Panthell.«
»Wurde er getötet?« fragte Tanis.
»Genau das befürchtete Joherics Vater. Er hatte Angst, sein Sohn und Erbe wäre gefangengenommen worden. Joheric ging zu ihrem Vater und schwor, sie würde ihren Bruder finden – ein Schwur, den niemand besonders ernst nahm, denn sie war schließlich ein Mädchen und erst an die Fünfundzwanzig, also jünger, als du jetzt bist. Im Schutze der Nacht verließ sie das Schloß und durchquerte die Wälder von Silvanesti auf der Suche nach dem Regiment ihres Bruders.«
»Hat sie ihn gefunden?« fragte Tanis, den Mund voll Quith-Pa. Er las einen Krümel von seinen sandfarbenen Hosen auf.
Miral nickte. »Das hat sie. Doch alles war anders, als sie es erwartet hatte. Sie stieß auf Panthell, während sein Elfenregiment gerade gegen eine Truppe Menschen kämpfte. Sie kämpfte sich zu ihm vor, und da entdeckte sie zu ihrem Entsetzen…« Die Stimme des Zauberers brach ab. »Was meinst du, was sie entdeckte, Tanis?« hakte Miral nach.
Tanis blickte auf und schluckte. »Was denn?« wiederholte er.
Miral nahm die Erzählung wieder auf. »Panthell kämpfte auf Seiten der Menschen.«
Der Halbelf fühlte einen Schauer durch seinen Körper rinnen. Er schüttelte den Kopf, um ihn klar zu bekommen. Was wollte Miral ihm sagen?
Ohne weitere Pause fuhr der Magier fort, wobei er den Halbelfen nicht mehr ansah. »Joheric war so wütend, daß sie, ohne nachzudenken, ihren Bruder beim Namen rief, und als er sich umdrehte, durchbohrte sie ihn mit ihrem Schwert. Es stellte sich heraus, daß die Elfen den Menschentrupp verfolgt hatten, dem Panthell sich als Führer angeschlossen hatte. Die Elfen töteten viele Menschen und führten Joheric als Heldin nach Hause.«
»Als Heldin? Weil sie ihren Bruder getötet hat?« schluckte Tanis. Er hatte gehört, daß die Silvanesti-Elfen kälter und berechnender waren als die Qualinesti, aber…
»Weil sie einen Verräter getötet hat«, stellte Miral richtig. »Sie erbte den Besitz ihres Vaters und wurde ein sehr erfolgreicher Elfengeneral.« Er brach ab und warf seinem Schüler einen Blick zu.
Tanis war entsetzt. »Und das war’s?« wollte er wissen, wobei er unwillkürlich seine Stimme hob. »Sie hat ihren Bruder getötet und wurde dafür belohnt?«
»Der Rest ihres Lebens war von Trauer überschattet«, gab Miral zu. »Jahrelang verfolgten sie Träume über ihren Bruder, Alpträume, in denen sie ihn wieder und wieder durchbohrte, bis sie schreiend erwachte.«
Tanis dachte nach, während er sich in dem abgedunkelten Raum umsah, doch statt dessen erblickte er eine Elfenfrau in Rüstung, die in der Schlacht ihren eigenen Bruder angriff. »Schlimme Träume scheinen ein armseliger Preis zu sein, wenn man den Tod eines anderen Elfen zu verantworten hat«, sagte er schließlich.
»Kommt auf die Träume an«, sagte der Zauberer.
Die beiden saßen kurze Zeit schweigend da, bis Miral sich vorbeugte. »Verstehst du die Moral meiner Geschichte?«
Der Halbelf nahm das letzte Stück Quith-Pa und dachte wieder nach. »Daß eine Person den Lauf der Geschichte verändern kann?« bot er an.
Das Gesicht des Zauberers verriet Zustimmung. »Gut. Was noch?«
Tanis überlegte intensiv, doch ihm fiel weiter nichts Vernünftiges ein. Der Magier beugte sich zu ihm. Seine Augen starrten ihn zwingend an. »Entscheide dich, auf wessen Seite du stehst, Tanis.«
Der erschrockene Elf merkte, wie sein Gesicht weiß wurde. »Was habt Ihr gesagt?« fragte er matt.
»Entscheide dich, auf wessen Seite du stehst.« Dann wandte sich der Magier ab.
An dieser Stelle der Morgenlektion kam Laurana herein, und Miral legte eine Pause ein, die ohnehin schon durch den Schock nötig war, der immer noch im Gesicht seines jungen Schülers zu lesen stand. Der Junge mußte die harte Wahrheit früher oder später erfahren, dachte der Magier. Tanis konnte nicht als Halbelf oder Halbmensch leben, ohne sich zu entscheiden, welcher Rasse er sich zugehörig fühlen wollte. Dennoch hatte es Miral sehr leid getan, seinen Schüler zu verletzen, und er wünschte, er hätte einen sanfteren Weg gefunden. Wenn Tanis keinen Abstand zwischen sich und dem Hof aufbaute, würde er voller seelischer Narben durchs Leben gehen. Trotzdem war es schade, fand der Magier.
Tanis kam ein paar Minuten später zurück, nachdem er erfolgreich die Bemühungen seiner kleinen Cousine abgewehrt hatte, ihn zum Spielen in die Sonne zu locken.
»Es sind vielleicht nicht mehr viele solcher Tage bis zum Winter«, hatte die Tochter der Stimme argumentiert. »Ehe du dich umdrehst, ist der Winter schon da, Tanis.«
Sie hatte gelacht, aber Tanis war etwas erschauert. Er konnte schon den Winterwind in den Knochen fühlen, und er wußte irgendwie, daß der Wechsel der Jahreszeiten für ihn bedeutsamer war als für andere Elfen. Vielleicht kam es daher, weil er spürte, wie er sich mit den Jahreszeiten veränderte und älter wurde. Vielleicht bedeuteten die einzelnen Jahreszeiten den Rassen, die weniger Sommer sehen würden, mehr als den Elfen. Ein Halbelf lebt kürzer als ein reiner Elf, der Jahrhunderte vor sich hatte, auch wenn ein Halbelf wiederum eine längere Lebenserwartung hatte als die Menschen.
Der Zauberer und sein Schüler wendeten sich einem neuen Thema zu – der Funktionsweise eines Flügels. Miral hatte am Morgen bei einem Waldspaziergang einen toten Sperling und eine braune Fledermaus gefunden. Zusammen mit Tanis untersuchte er die beiden Tiere, die vor ihnen auf einem Tablett auf dem Tisch lagen. Die helle Lampe füllte den Raum mit dem Duft von Gewürzöl. Doch als die beiden so Kopf an Kopf beieinander standen, um die tote Fledermaus und den Vogel zu untersuchen, lag eine gewisse Spannung zwischen Lehrer und Schüler in der Luft. Tanis bemühte sich sehr, seine Aufmerksamkeit wieder auf Mirals Unterricht zu lenken.
»Du siehst doch den Unterschied zwischen der Fledermaus und dem Sperling, Tanis?« fragte Miral nach. Sein Atem roch nach Lorbeerblättern.
»Ich glaube schon«, erklärte Tanis. Er fuhr die zarten Linien des Fledermausflügels mit dem Finger nach. »Bei der Fledermaus besteht der Flügel aus Haut, die zwischen den Fingerknochen ausgestreckt wird. Diese Knochen sind ausgesprochen lang, bis auf den Daumen.« Dann betrachtete er den Sperling, der reglos auf dem Tisch lag. »Und bei dem Vogel gibt es keine Finger mehr, und der Flügel besteht aus Federn, die direkt aus dem Arm wachsen.«