»Gut«, sagte Miral ernst. »Ich denke, das reicht für heute. Ich möchte nämlich nicht, daß du darauf kommst, selber fliegen zu wollen.«
Tanis lächelte Miral an. »Ich fürchte, wenn ich das versuche, dann teile ich das Schicksal dieser beiden Kerlchen.« Er betrachtete nachdenklich die beiden stillen Tiere auf dem Tisch.
»Leben und Tod sind gleichermaßen Teil des natürlichen Kreislaufs«, meinte Miral. »Und wenn wir vom Tod lernen können, um so besser.« Er stellte das Tablett beiseite und goß jedem ein Glas Wein ein, damit sie beim Weiterreden etwas zu trinken hatten. »So, ich glaube, wir haben noch Zeit für eine weitere Geschichte. Was möchtest du hören?«
»Von Euch«, erwiderte Tanis. »Ich möchte Eure Lebensgeschichte hören.«
Es wurde wieder dunkler im Raum, als die klaren Augen des Zauberers den ernsten Gesichtsausdruck des Halbelfen wahrnahmen. Der Steinboden schien Kälte auszustrahlen, und Tanis fröstelte. Miral hatte offensichtlich eine Entscheidung getroffen. Er nahm einen Schluck Wein und fragte: »Was für eine Geschichte soll ich denn von mir erzählen?«
»Wie wär’s mit all Euren Reisen?« bohrte der Halbelf nach.
Miral drehte sich vom Tisch weg. »Das war nur zielloses Umherstreifen eines dummen, jungen Elfen«, sagte der Zauberer schulterzuckend. »Mein Leben war ziemlich uninteressant, bis ich endlich so schlau war, nach Qualinost zu gehen.«
Tanis trank noch einen Schluck Wein, dann einen weiteren, damit er sich traute, weiterzufragen. »Wie seid Ihr hierhergekommen? Ihr sagt, Ihr seid ein Silvanesti. Warum dann nach Qualinost?«
»Es ist schon Nachmittag. Kommst du nicht zu spät zu deiner Schießstunde?«
»Ihr habt gesagt, die Zeit reicht noch für eine Geschichte«, beharrte Tanis stur.
Miral seufzte. »Ich sehe, du gibst erst auf, wenn ich dich ein wenig über das Leben eines Zauberers aufgeklärt habe. Also, komm. Ich begleite dich zu deiner Stunde bei Tyresian. Wir können unterwegs reden.«
Sie leerten ihre Kelche, dann folgte Tanis Miral auf den Gang, wo der Magier sorgfältig die Tür verschloß. Auf Mirals Bitte hin war der Gang vor seinen Zimmern immer nur schwach beleuchtet. Es gab nie eine Wache – ebenfalls auf seine Bitte hin.
»Was weißt du von mir, Tanis?« fragte Miral, als sie langsam den Korridor entlanggingen.
Tanis paßte sein Tempo dem des Zauberers an. Beide machten wenig Lärm beim Gehen, denn der Halbelf trug lederne Mokassins, und der Magier hatte weiche Schuhe an. »Ich weiß, daß Ihr ein Freund vom Bruder der Stimme, Arelas, wart. Und daß Ihr hierhergekommen seid, als ich noch ein Kind war.« Tanis wurde rot. Er hoffte, der Magier würde nicht sagen, daß der Halbelf immer noch ein Kind war.
Miral jedoch schien ganz in die Betrachtung des Marmorfußbodens versunken zu sein. Sie waren schon so weit von den Zimmern des Zauberers entfernt, daß an den Wänden wieder Kerzen brannten, daher traten sie abwechselnd aus dem Licht ins Dunkle und dann erneut ins Licht. Endlich erzählte Miral weiter.
»Wir waren alte Freunde«, sagte der Zauberer rauh. »Du weißt, daß Arelas nicht bei Hof aufgewachsen ist?«
Tanis nickte. Dann wurde ihm klar, daß Miral das nicht sehen konnte, weil er die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen hatte. »Ja, natürlich«, sagte er.
»Arelas war der jüngste von den drei Brüdern. Solostaran war natürlich der älteste. Kethrenan war viele Jahre jünger, und Arelas nur wenige Jahre jünger als Kethrenan. Arelas wurde schon als ganz kleines Kind vom Hof fortgeschickt – angeblich, weil er kränklich war und hier nicht gedieh«, berichtete Miral. »Man schickte ihn zu ein paar Klerikern bei Kargod, mehrere Wochen Reise nördlich von hier, durch die Berge und über die Straße von Schallmeer. Kurze Zeit davor war ich als Zauberlehrling in die gleiche Gegend gekommen.
Man möchte meinen, daß zwei Elfen, die in einer Menschenstadt leben, leicht Freundschaft schließen, schon aus Einsamkeit«, fuhr Miral fort. »Aber so war es nicht. Wir lebten jahrelang in der Nähe derselben Stadt, begegneten uns auf dem Marktplatz und nickten uns zu, ohne je ein Wort zu wechseln. Er ging nie wieder heim nach Qualinost. Ich ging nie wieder heim nach Silvanost.« Er machte eine Pause, während der Tanis seinen Freund regelrecht nach den richtigen Worten suchen hören konnte. Als sie an einer Tür vorbeikamen, trat gerade Lord Xenoth, der alte Berater der Stimme, mit wehender, silbergrauer Robe heraus, ging jedoch ohne Gruß an ihnen vorbei.
»Xenoth hat mich von Anfang an abgelehnt«, murmelte Miral. »Warum, weiß ich nicht. Ich habe ihm nie etwas getan. Ich bin auch bestimmt keine Bedrohung für seine Stellung am Hof, und etwas anderes scheint ihn ja nicht zu kümmern.«
Sie kamen an einem Fenster vorbei, einem senkrechten Schlitz im Quarz, und Tanis wich einem großen Farn aus. »Aber irgendwann habt Ihr Arelas kennengelernt«, hakte er nach.
Miral bog rechts ab, und sie stiegen die breiten Steinstufen in den Hof hinunter. »Wir haben uns durch eine Magie kennengelernt. Eines Tages brach Arelas auf dem Marktplatz von Kargod zusammen. Er war ein schwächlicher Elf. Ich war gerade in der Nähe und eilte ihm zur Hilfe. Ich kenne viele Sprüche, um kleinere Unpäßlichkeiten zu lindern, auch wenn ich kein richtiger Heiler bin, wie du wohl weißt.« Tanis wollte eilig Einspruch erheben, doch Miral wehrte seine höflichen Versicherungen mit einer seiner typischen Gesten ab. Der Halbelf schwieg. Miral war wirklich kein bedeutender Zauberer, aber seine freundliche Art und seine Zugänglichkeit hatten ihn ziemlich beliebt gemacht.
»Jedenfalls«, erzählte Miral, »konnte ich Arelas’ Schmerzen lindern und habe ihn in den Tagen danach oft besucht. So wurden wir schließlich Freunde.«
Sie waren an der zweiflügeligen Tür angekommen, durch die man den Hof betreten konnte. Die Tür war aus poliertem Stahl – was sie in einer Zeit, wo Stahl durch die ständige Drohung des Krieges wertvoller war als Gold und Silber, doppelt kostbar machte. Jeder Flügel war so hoch wie zwei Elfen übereinander und so breit wie einer, auch wenn aufgrund der Kunst der Elfenhandwerker jeder Elf, egal wie schwach, die Türen aufdrücken konnte. Tanis machte eine auf. Das reichte, um zu sehen, wie Tyresian draußen hochmütig an einer Säule lehnte. Miral trat in die Schatten zurück, woraufhin der Halbelf die Tür wieder zuschwingen ließ.
»Wie seid Ihr dann nach Qualinost gekommen?« fragte Tanis. »Und was ist aus Arelas geworden?«
Miral schlug die Kapuze vom Gesicht zurück. »Vielleicht sollte das bis zum nächsten Mal warten. Es ist nicht die schönste Geschichte, wenn sich zwei Freunde trennen.« Aber bei Tanis’ Blick fuhr er fort: »Arelas beschloß, Qualinost zu besuchen und bat mich, ihn zu begleiten. Ich hatte immer schon die westlichen Elfenländer sehen wollen, darum war ich einverstanden. Wir hätten bestimmt in Qualinost, bei Hof, um eine Eskorte bitten können, aber Arelas wollte Qualinesti unerkannt betreten – warum, habe ich nie herausgefunden. Er war in vielerlei Hinsicht ein Geheimniskrämer.
Es war in den unruhigen Zeiten in den frühen Jahrhunderten nach der Umwälzung. Räuberbanden waren auf den Fernstraßen nicht selten. Aber Arelas versicherte mir, daß wir in unserer kleinen Reisegruppe sicher wären.«
Miral ließ den Kopf hängen. Er schien um Atem zu ringen. Tanis war von der Erzählung fasziniert, doch er wünschte, er hätte den Magier nicht gebeten, ein offensichtlich schmerzhaftes Erlebnis wieder aufzuwärmen.
Schließlich seufzte der Zauberer. »Arelas hatte unrecht. Wir segelten sicher von Kargod nach Abanasinia und reisten ohne Zwischenfall eine Woche über Land. Aber eine Tagesreise hinter Solace, bei Torweg, wurde unsere kleine Reisegruppe von menschlichen Banditen überfallen. Den einen Räuber konnten wir töten, aber sie brachten die Wachen um, die mit uns reisten.«
»Und Arelas?« fragte Tanis. Hinter der Tür hörte er ungeduldige Schritte und erriet, daß es Tyresian sein mußte, der ihn zur Bogenstunde holen wollte.