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»Es ist auch ein Halbelf.«

Solostaran schwieg eine Weile, doch dann sah Eld Ailea die stolze Maske bröckeln, und die Stimme schüttelte den Kopf. Das Baby schlief noch. Vorsichtig berührte die Stimme eine der beiden, winzigen Hände. Reflexhaft öffnete sich die Hand und klammerte sich dann am Finger der Stimme fest. Eld Ailea hörte, wie Solostaran tief Luft holte, und sah Milde in seinen Augen aufkeimen. »Was für ein Leben mag einen erwarten, der von zwei Dingen die Hälfte ist und nichts Ganzes?« fragte die Stimme. Aber Eld Ailea hatte keine Antwort für ihn, und lange sagte keiner von beiden ein weiteres Wort. Der Blick der Hebamme blieb ungerührt.

Für einen Augenblick zeigte sich ein gepeinigter Ausdruck in den Augen der Stimme. Dann kehrte der Stolz in sein Gesicht zurück. »Er ist der Sohn der Frau meines Bruders, und er wird bei mir leben. Er soll wie ein echter Elf von Qualinesti aufwachsen.« Eld Ailea seufzte, berührte die Wangen des Neugeborenen und küßte seine Stirn, bevor sie das Bündel wortlos der Stimme überreichte. »Hat der Kleine schon einen Namen?« fragte Solostaran, der anscheinend jeden Blick auf die starre Gestalt im Bett mied. »Hat Elansa ihm einen gegeben?«

»Ja«, flüsterte die Hebamme nach einer Pause. Sie zögerte bei der Lüge. »Sie nannte ihn ›Tanthalas‹.« Eld Ailea strich ihren wollenen Rock glatt, weil sie es nicht wagte, der Stimme in die Augen zu sehen, damit er nicht die Wahrheit erriet. Doch ihr Geschenk an das Kind würde etwas Dauerhaftes sein – ein Name. »Immer stark«, bedeutete der Name in dem Menschendialekt, den Eld Ailea als Kind gelernt hatte.

Solostaran nickte nur. Als er zur Tür ging, trug er das Baby so geschickt wie ein erfahrener Vater. Porthios, sein Erstgeborener, war erst fünfzig Jahre alt, immer noch ein Jugendlicher. Eld Ailea hievte ihren plötzlich erschöpften Körper aus dem Stuhl und folgte ihm. Sie blieben in der Nachtluft am Fenster stehen; die Frische des Frühlings drang herein, erfaßte sein goldenes Haar und wehte es aus der Stirn. Dort ruhte ein goldener Reif, der im Licht der Monde silbern und karmesinrot glänzte.

»Ich fürchte, ich tue ihm keinen Gefallen, wenn ich ihn an den Hof bringe«, sagte die Stimme. »Ich bezweifle, daß er dort Frieden finden kann. Aber wir sind verwandt, darum muß ich es tun.«

Solostaran zog das Leintuch um das Gesicht des Kindes, damit es vor der Feuchtigkeit geschützt war, und die Hebamme und die Stimme blieben noch vor dem Fenster stehen. In diesem Moment blitzte ein silberner Streifen am Himmel auf. Eine Sternschnuppe, Himmelslicht, das auf Krynn fiel, zog ihren feurigen Schweif nordwärts hinter sich her. Die Stimme schien das Omen nicht zu bemerken, doch Eld Ailea schloß hoffnungsvoll ihre Finger um das Amulett, das die sterbende Elansa ihr aufgenötigt hatte. Für das Volk der Hebamme verhieß eine Sternschnuppe gute Kameraden. Und ein Halb-Elf würde gute Freunde brauchen.

»Ich werde andere schicken, die sich um Elansa kümmern sollen«, sagte Solostaran, wobei seine Stimme etwas bebte. Dann ging er und nahm das Baby mit. Eld Ailea blieb am Fenster stehen, bis das Klingeln der Glöckchen und der dumpfe Hufschlag auf den gepflasterten Straßen verklungen waren.

Weit im Norden schlief ein kleiner Ort in der Dunkelheit. Es war eine Stadt aus Holzhäusern, von denen die meisten oben in die sicheren Zweige uralter, turmhoher Bäume gebaut waren. Luftige Hängebrücken verbanden die Häuser miteinander. In einem der wenigen Häuser auf dem Boden – dem einzigen, wo noch ein schwaches Licht durch die offenen Fensterläden hinausschien – saß eine einzelne Gestalt. Sie war klein, von der Größe eines Menschenkindes, hatte aber kräftige Glieder und breite Schultern, und vom Kinn kräuselte sich ein dichter Bart auf die Brust. Der Zwerg saß am Tisch und hielt ein Stück Holz in der Hand, das er immer wieder drehte. Mit einem kleinen Messer schnitzte er hier und da daran herum. Trotz seiner gedrungenen Finger arbeitete er dabei sehr präzise. Schon bald entstand ein glattes, zartes Gebilde aus dem weichen Holz: das Abbild eines Espenblatts. Er hatte erst einmal eine Espe gesehen, weit im Süden in der Nähe seiner Heimat, die er vor gar nicht so langer Zeit verlassen hatte, um in der weiten Welt sein Glück zu machen. Blaß und schmal hatte der Baum am höchsten Punkt eines hohen Passes gestanden, welcher zum Land der Elfen führte – das jedenfalls hatte sein Vater ihm erzählt. Vielleicht hatten die Qualinesti-Elfen ihn dort in Erinnerung an ihre Waldheimat gepflanzt, falls sie einmal zufällig diesen Weg nehmen sollten. Der Baum mit seinen Blättern, die auf der einen Seite grün und glänzend wie Smaragde waren und auf der anderen wie silberner Reif, gehörte für ihn zum Schönsten, was er je gesehen hatte. Vielleicht würde er eines Tages noch einmal das Glück haben, eine Espe zu sehen. Vorerst aber würde das Holzblatt reichen müssen.

Schließlich wurde der Zwerg müde. Er stand auf und blies die Kerze auf dem Tisch aus. Als er auf dem Weg zum Bett am Fenster vorbeikam, bemerkte er ein Aufblitzen im Süden. Einen langen Moment sah man das Licht über den dunklen Himmel sausen. Dann war es fort.

»Reorx! Noch nie hab ich so eine Sternschnuppe gesehen!« murmelte er und erschauerte, obwohl die Frühlingsnacht ganz und gar nicht kalt war. Doch dann fragte er sich, warum er dort aus dem Fenster starrte wie ein Welpe, der so etwas zum ersten Mal sieht, schüttelte den Kopf, schloß die Läden und legte sich hin, um von Espen zu träumen.

1

Die Einladung

AC. 288, Vorfrühling

»Flint Feuerschmied aus Solace, Zwerg und Schmiedemeister, auf Einladung der Stimme der Sonne!« ertönte eine Stimme.

Flint spähte mißtrauisch durch die vergoldeten Türen, die sich vor ihm auftaten, doch dann weiteten sich seine stahlblauen Augen vor Erstaunen, als sein Blick nach oben wanderte – und immer weiter nach oben. Er bestaunte die weißen Marmorwände, die sich ohne die Hilfe von Säulen, Stützen oder Verstrebungen fast sechshundert Fuß bis zur gewölbten Decke erhoben. In Flints Augen wirkte die Kuppel fast so fern wie der Himmel selbst, und dieser Eindruck wurde auch noch durch ein glitzerndes Mosaik in der Kuppel verstärkt, das auf der einen Seite die Nacht, auf der anderen den Tag darstellte. Die beiden Bereiche waren durch einen durchscheinenden Regenbogen getrennt. Schon beim Anblick des enormen Turms wurde ihm schwindlig. Flint fiel die Kinnlade herab, und seine Augen tränten, als er sie zusammenkniff und das Mosaik dort oben genauer betrachtete, bis ihn das höfliche Hüsteln des Dieners, der ihn angekündigt hatte, wieder in die Gegenwart zurückrief.

»Feuerschmied, benimm dich nicht wie ein Tourist«, schalt der Zwerg sich leise. »Alles wird denken, daß du noch nie aus Hügelheim herausgekommen bist.« Das winzige Dorf seiner Geburt lag weit im Süden des Elfenlands. Er richtete sich auf, strich die blaugrüne Tunika glatt und ging weiter in den Saal hinein. Ein Dutzend Höflinge in knielangen, braunen, grünen und rostroten Tuniken mit Silbergürtel drehte sich nach ihm um, als seine eisenbeschlagenen Stiefel, die im Kampf so praktisch waren, über den Marmorboden donnerten. Die weichen Schuhe seines Begleiters glitten dagegen fast geräuschlos über den Marmor. Flint versuchte, auf Zehenspitzen zu gehen, was in Stiefeln ein schwieriges Unterfangen ist. Er merkte, wie sich auf dem Gesicht seines Begleiters ein leises Grinsen abzeichnete. Die mandelförmigen, braunen Augen schauten freundlich. Ein paar Höflinge lächelten, doch die meisten Elfen verzogen keine Miene, als wäre ihr Gesicht aus dem Eis der Polkappe im Süden geschnitzt.

Die Qualinesti-Elfen im Westen stammten von den Silvanesti-Elfen ab, die viele Wochen entfernt im Osten lebten. Vor fast zweitausendfünfhundert Jahren hatten sich die westlichen Elfen von ihren östlichen Verwandten getrennt und waren unter der Führung des Helden Kith-Kanan in einen abgelegenen Wald an der Grenze des Zwergenkönigreichs Thorbardin gezogen. Die Qualinesti-Elfen hatten sich mit den Zwergen von Thorbardin zusammengetan, um den Sonnenturm zu bauen. Auch beim Bau von Pax Tarkas, einer mächtigen Festung zwischen den beiden Königreichen, hatten sie zusammengewirkt und die Festung über eintausendfünfhundert Jahre lang gemeinsam bemannt, bis sich die Elfen zur Zeit der Umwälzung vor drei Jahrhunderten – zu Lebzeiten von Flints Großvater – nach Qualinost zurückgezogen hatten.