Seitdem hatte kein Nichtelf die Hauptstadt von Qualinesti betreten.
Ein Zischen rief Flints Gedanken in die Gegenwart zurück. »Die Umgebung ist etwas gewaltig für einen Zwerg.« Die Worte, die Flint aufmerken ließen, stammten von einem hochgewachsenen Elfen, der links von dem Zwerg an einem Pfeiler stand. Die silbergraue Robe des Elfen paßte perfekt zu seinem weißen Haar, das ein starres Gesicht umrahmte; seine Lippen hatte der alte Elf verächtlich geschürzt.
Flint blieb stehen, überlegte und sprach den Elfen an, der ihn so empört anblickte, wie es mitunter Leute tun, die aufgrund ihres hohen Alters glauben, daß sie jederzeit ungestraft ihre Ansichten kundgeben dürfen. »Sind wir uns schon einmal begegnet, Sir?« erkundigte sich Flint mit leiser Stimme. »Wenn nicht, dann kommt es mir so vor, daß Eure Ansicht auf mangelndem Wissen beruht.« Er legte die Hand auf die Streitaxt an seinem Gürtel.
Ein blaues und ein braunes Augenpaar begegneten sich einen Moment lang und rangen miteinander, dann bemerkten Elf und Zwerg, daß die anderen Höflinge sie angafften. Der Elf machte auf dem Absatz kehrt und verließ lautlos den Turm.
»Wer war das?« fragte Flint seinen Begleiter in etwas zu lautem Flüsterton.
Die Stimme des Dieners war kaum hörbar. »Lord Xenoth, der die Stimme der Sonne schon länger berät, als du oder ich leben. Manche sagen, daß er schon hier war, als Kith-Kanan und seine zwergischen Verbündeten den Turm erbaut haben«, kam die Antwort. Der Diener war erstaunlich gewandt darin, leise zu sprechen, fand Flint, und anscheinend bemühte sich der Elf darum, gewisse Gefühle zu verbergen – seine Lippen zuckten irgendwie unkontrolliert.
Flint war der erste Zwerg, der das Innere des Turms seit seiner Erbauung vor über zweitausend Jahren zu Gesicht bekam. Nicht übel, dachte er. Seine Mutter würde stolz sein.
Noch vor wenigen Wochen hatte er gemütlich in Solace gesessen und im Wirtshaus »Zur Letzten Bleibe« Bier getrunken. Er drehte sich zu seinem Begleiter um, weil er wissen wollte, ob Qualinesti-Elfen Bier tranken, doch der sah woanders hin.
Der Zwerg wußte, daß er angesichts der Schönheit des Turms und der Anmut der Elfen eine komische Figur abgab. Obwohl er höchstens halb so groß war wie sie, hatte er eine Brust wie ein Faß, und seine am Amboß kräftig gewordenen Arme waren doppelt so stark wie die der stärksten Elfen. Zu seiner blaugrünen Tunika trug er rostrote Hosen mit einem dicken Ledergürtel und hatte einen grauen, von der Reise schmutzigen Mantel umgelegt. Das Ende seines langen Bartes hatte er in den Gürtel gesteckt, das schwarze Haar hatte er mit einem Lederband am Hinterkopf zusammengebunden. Unglücklicherweise hatte Flint keine Ahnung, wie man sich zu kleiden hatte, wenn man dem Herrscher eines Elfenkönigreichs vorgestellt wurde, und obwohl er sein Bestes gegeben hatte, wuchs in ihm die Vermutung, daß das bei weitem nicht genug gewesen war. Nur leider hatte der Zwerg wenig golddurchwirkte Tuniken im Schrank hängen. Seine Reisekleidung würde reichen müssen, dachte er seufzend.
Sie waren schon merkwürdig, diese Elfen, fand er, als er zwischen ihnen hindurchlief. Vor und hinter ihm wurde geredet, aber wenn er vorbeikam, schwiegen sie. Sie waren zwar groß, ansonsten aber schmal und glänzend wie junge Espen – und dazu sehr schön in goldenes Licht gehüllt. So zumindest wirkte es auf den Zwerg. Vielleicht war das nur ein Lichteffekt. Vor langer Zeit, beim Bau des Turms, hatten Zwergenhandwerker Tausende von Spiegeln so ausgerichtet, daß immer Sonnenlicht in den Turm fiel, ganz gleich zu welcher Tageszeit.
Die schweigenden Elfen beobachteten den bärtigen Zwerg mit höflicher Neugier, und nach einer halben Ewigkeit fand sich Flint schließlich vor dem niedrigen Podest in der Mitte des Raums wieder.
»Willkommen, Meister Feuerschmied«, sagte der Elf, der dort stand. Die Stimme der Sonne von Qualinesti war hochgewachsen, selbst für einen Elfen, und seine Position auf dem Podest ließ ihn noch größer erscheinen. Flint fühlte sich regelrecht erschlagen. Die Stimme der Sonne, ein Nachfahre des Helden Kith-Kanan persönlich, ließ ihn vor Ehrfurcht erstarren.
Die Stimme lächelte, woraufhin Flints Magen sich etwas beruhigte. Solostarans Lächeln kam von Herzen und strahlte aus seinen weisen Augen, die so grün waren wie der grünste Wald. Flint seufzte. Jetzt fühlte er sich ein wenig wohler. Die kühlen Blicke der Höflinge waren nun nur noch halb so wichtig. »Ich nehme an, Eure Reise ist ohne Zwischenfälle verlaufen«, sagte die Stimme.
»Ohne Zwischenfälle! Reorx!« wiederholte der Zwerg empört.
Zwei Elfenwachen hatten ihn herrisch von seinem Lieblingsstuhl im Wirtshaus »Zur Letzten Bleibe« fortgerufen und ihn gebeten, sie zu der geheimnisvollen Elfenhauptstadt zu begleiten, die in den letzten Jahrhunderten so wenige Nichtelfen zu Gesicht bekommen hatten. Sie waren über geheime Treppen hinter Wasserfällen hochgestiegen, an Abgründen entlang und durch feuchte Tunnel gelaufen.
Die Aussage, die Stadt sei gut geschützt, war eine Untertreibung. Die zerklüfteten Gipfel im Süden von Qualinost erhoben sich so bedrohlich hoch, daß selbst der entschlossenste Gegner innehalten mußte. Im Westen, Norden und Osten war Qualinost von zwei Flüssen geschützt, deren fünfhundert Fuß tiefe Klammen sich im Norden vereinigten. Zwei schmale Brücken – die leicht einzureißen waren, sollten Feinde wirklich den Weg durch die Wälder um die eigentliche Stadt finden – stellten die einzigen Zugänge über die Schluchten dar.
Da merkte der Zwerg, daß die Stimme auf eine Antwort wartete. »Oh. Ich – äh – gut, danke Sir. Hoheit«, stammelte er, während er sich zu erinnern versuchte, was Solostaran ihn gefragt hatte. Sein Gesicht glühte, als die Höflinge um ihn herum näher kamen. Sein Begleiter verbeugte sich und trat zurück. Flint fühlte sich plötzlich im Stich gelassen.
»Und gefällt Euch unsere geliebte Stadt?« fragte die Stimme höflich.
Flint, der sich in seiner Schmiede wohler fühlte als in »gehobener Gesellschaft«, wie es seine Mutter genannt hätte, wußte wieder keine rechte Antwort. Wie beschreibt man seinen ersten Eindruck von einer Stadt, die vielleicht die schönste von Krynn ist? Die Qualinesti-Elfen ehrten ihre Waldheimat durch Gebäude, die einen an die Espen, die Eichen und den Wald erinnerten. Weil sie den rechten Winkel ablehnten, der an den zu analytischen menschlichen Verstand gemahnte, bauten die Elfen ihre Häuser so mannigfaltig wie die Natur selbst. Kegelförmige und baumartige Häuser und Geschäfte säumten die blaugepflasterten Straßen. Aber die Gebäude selbst waren nicht aus Holz, sondern aus Rosenquarz. Im Licht des Nachmittags hatte die Stadt geglitzert, als das Licht sich in den Facetten des Quarzes brach. Überall blühten Birnbäume, Pfirsichbäume und Apfelbäume in verschwenderischer Pracht. Der Duft der Blüten drang sogar bis in den Sonnenturm.
»Die Stadt ist wunderschön, Hoheit«, sagte Flint schließlich.
Ihm sank das Herz in die Hose, als mehrere Höflinge nach Luft schnappten. Was hatte er falsch gemacht? Die Stimme stieg von dem Podest und beugte sich zu dem Zwerg hinunter. Flint zeigte sich ungerührt, innerlich wand er sich jedoch.
»Nennt mich ›Stimme‹«, sagte Solostaran so leise, daß selbst die nächststehenden Elfen nichts hörten. Flint nickte, und Solostaran richtete sich wieder auf. Aber ein Paar gespitzte Ohren hatten die Worte der Stimme aufgeschnappt. Ein rasch unterdrücktes Kichern ließ den Zwerg hinter die Stimme blicken und brachte einen verärgerten Zug auf das Gesicht der Stimme. Hinter dem Podium standen drei junge Elfen – nein, erkannte Flint, der eine, ein trotzig wirkender Junge mit rotbraunen Haaren, war ein Halbelf. Die Stimme wies auf die beiden reinen Elfen. »Meine Kinder. Gilthanas. Und Lauralanthalasa, die eine Lektion in Benehmen bei Hof braucht.« Das Mädchen kicherte erneut.