Der Junge war eindeutig eine junge Ausgabe seines schlanken, eleganten Vaters. Und das Mädchen…! So etwas wie dieses Elfenmädchen hatte Flint noch nie gesehen. Sie hübsch zu nennen, wäre gewesen, als würde man die Sonne eine Kerze nennen, überlegte Flint, auch wenn er kein Dichter war. Sie war schlank wie eine Weide, ihre Augen besaßen die Farbe junger Blätter, und das Haar war so golden wie das Licht der Morgensonne. Die Stimme warf ihr einen strengen Blick zu, woraufhin das bildschöne Mädchen einen Schmollmund zog. Sie war die einzige im Raum, die kleiner war als Flint, und benahm sich wie ein fünf- oder sechsjähriges Menschenkind, doch er hätte wetten mögen, daß sie mindestens zehn war.
»Und das?« fragte Flint mit einem Nicken zu dem Halbelf, der rot wurde und sich zur Seite drehte. Plötzlich erschien es dem Zwerg so, als hätte er den Jungen in eine furchtbar peinliche Lage gebracht, indem er auf ihn aufmerksam machte. Er war älter als die beiden anderen, und Flint glaubte nicht, daß er mit ihnen verwandt war. Im Gegensatz zu den gertenschlanken Elfen war sein Körper etwas kräftiger, weniger feingliedrig, und seine Gesichtszüge waren nicht ganz so ebenmäßig. Er erinnerte Flint eher an einen der Menschen aus dem fernen Solace.
Die Stimme antwortete ungerührt: »Das ist mein Mündel, Tanthalas oder auch Tanis.«
Wieder wußte Flint nichts zu sagen. Der Junge fühlte sich offensichtlich unwohl, weil er aufgefallen war. In diesem Moment tauchte der Berater, den Flints Begleiter als Lord Xenoth bezeichnet hatte, aus einem Raum hinter dem Podium auf und stellte sich vor den Halbelfen. Tanis trat beiseite. Von dem Jungen strahlte Trotz aus wie Hitze von einem Lagerfeuer, doch gegen wen dieses Gefühl sich richtete, hätte Flint nicht sagen können.
Die Stimme zeigte auf einen anderen Elfen, der weiter rechts unter einem der geschnitzten Marmorbalkone stand. Der Elfenlord hatte dunkelblonde Haare und regelmäßige, eckige Gesichtszüge. Bis auf seine engstehenden, unter tiefsitzenden Brauen verborgenen Augen konnte man ihn gutaussehend nennen, dachte Flint. Sein Gesicht wirkte wahrscheinlich selbst dann finster, wenn er glücklich war, befand der Zwerg. Der Elfenlord stand mit drei anderen, ebenso stolzen Elfen zusammen, zwei Männern und einer Frau.
»Mein ältester Sohn, Porthios«, sagte Solostaran stolz. Der Elfenlord neigte etwas den Kopf. Oho, dachte Flint, das ist aber ein Stolzer und wahrscheinlich auch nicht besonders glücklich, andere als reinrassige Elfen – mit Blut, dessen Reinheit man bis zu den Sippenmord-Kriegen zurückverfolgen kann – in seinem kostbaren Turm zu haben.
Die Stimme wartete wieder. Flint beschloß, daß er mit Ehrlichkeit am weitesten kommen würde.
»Ich fürchte, ich weiß nur sehr wenig vom Hof und noch weniger von Elfen, auch wenn ich hoffe, daß letzteres sich bald ändern wird«, sagte er, wobei sich seine Schultern etwas entspannten.
»Warum seid Ihr meinem Ruf gefolgt?« fragte Solostaran. Seine grünen Augen waren so tiefgründig, und Flint kam es einen Augenblick so vor, als sei er allein mit der Stimme im Raum. Der Zwerg erhaschte einen Hauch der Macht, die die Stimme seit Kith-Kanan besaß. Besser, ich verärgere ihn nicht, dachte er.
»Während der Reise der letzten Wochen hatte ich Zeit, darüber nachzudenken«, sagte Flint. »Ich muß sagen, mein Hauptgrund ist die Neugier.« Lord Xenoth verzog die geschürzten Lippen und drehte sich wieder zur Seite, wobei seine Silberrobe das Podium streifte. »Neugier tötete den Kender«, flüsterte der alte Berater den Kindern hörbar zu, die die Stimme als Gilthanas und Lauralanthalasa vorgestellt hatte. Gilthanas kicherte höhnisch. Das Mädchen sah den alten Elfen befremdet an, blickte betont zur Seite und stellte sich neben den Halbelfen, Tanis. Dieser stand reglos da und bemerkte die Nähe des bezaubernden jungen Mädchens scheinbar nicht.
Solostaran warf Xenoth einen Blick zu, der den alten Elfen blaß werden ließ, worauf der Halbelf dünn lächelte. Als die Stimme sich wieder Flint zuwandte, waren ihre Augen jedoch freundlich. »Neugier«, wiederholte er.
»Wie die meisten habe ich Qualinesti noch nie gesehen«, erklärte Flint. »Es ist allgemein bekannt, daß die Wälder von Qualinesti für gewöhnliche Leute fast undurchdringlich sind. Daß mir eine Eskorte angeboten wurde – und zwar von der Stimme der Sonne höchstpersönlich –, ist wahrlich eine große Ehre.« Keine schlechte Rede, dachte der Zwerg, und das langsame Nicken der Stimme machte ihm Mut, fortzufahren. »Die Handwerkskunst der Qualinesti-Elfen ist in ganz Ansalon bekannt. Eure Produkte werden in Haven, Thorbardin, Solace und anderen Städten der Gegend teuer gehandelt. Ehrlich gesagt, habe ich gehofft, ein paar gute Tips für meine eigene Arbeit zu bekommen.«
Und außerdem, fügte der Zwerg im stillen hinzu, hatten die Gesandten der Stimme im Wirtshaus »Zur Letzten Bleibe« so viele Runden Bier für Flints Freunde ausgegeben, daß sich dem Zwerg alles gedreht hatte. Als er am nächsten Morgen aufwachte, war sein Gepäck schon auf dem Rücken eines Maultiers festgezurrt. Und ihn hatte man mit baumelndem Kopf und baumelnden Füßen gleich neben das Gepäck geschnallt.
»Meint Ihr Eure Worte ernst, Meister Feuerschmied?« fragte die Stimme ihn gelassen, und Flint zwinkerte.
»Ich – ich bin nicht sicher, was Ihr meint«, brachte er stotternd heraus.
»Ihr sagtet, Ihr wüßtet wenig über Elfen und würdet das gern ändern. Ist das wirklich so?«
Flint sah sich um, betrachtete den luftigen Turm, die goldhaarigen Elfen und die königliche Gestalt der Stimme in ihrer prächtigen grünen, mit Gold bestickten Robe. Der Duft der Frühlingsblüten war etwas zu schwer, aber selbst das war einzigartig. So seltsam das alles war, besonders für einen Hügelzwerg, der sich auf Schlachtfeldern und in Tavernen besser auskennt als in vergoldeten Türmen – Flint stellte fest, daß er nur nicken und ja sagen konnte.
»Ich muß gestehen, daß in jüngster Zeit auch unser Wissen über die Zwergenrasse abgenommen hat«, sagte die Stimme. »Einst waren unsere Völker Freunde. Gemeinsam haben sie die große Festung Pax Tarkas gebaut – und diese Stadt. Für uns selbst schlage ich kein so gewaltiges Unterfangen vor, Meister Feuerschmied. Ich wäre zufrieden, wenn wir zwei einfach eine Freundschaft schließen könnten.«
Ein paar der Elfenhöflinge murmelten zustimmend. Zahlreiche andere, einschließlich Lord Xenoth und dem Grüppchen um Porthios, schwiegen. Flint merkte, daß er nur dämlich grinsen konnte, wobei er die Hände in die Taschen steckte. »Reorx!« brach es plötzlich aus ihm heraus, und seine Augen weiteten sich. »Ahm, ich bitte um Verzeihung, ahm… Stimme.«
Solostaran versuchte nicht länger, sein Lächeln zu verbergen. »Ich nehme an, Ihr wundert Euch, warum ich Euch gerufen habe, mein Zwergenfreund«, sagte er. Dabei hob er seine goldberingte Hand, und ein Armband aus Silber und Moosachat rutschte vom Handgelenk auf den Unterarm. Flint sperrte die Augen auf, als er seine eigene Arbeit erkannte. Dann trat ein Diener mit einem Silbertablett vor, das mit dem Abbild eines Silberdrachen verziert war. Auf dem Tablett standen zwei Kelche aus dünn gehämmertem und glänzend poliertem Silber. Drei Espenblätter »wuchsen« aus dem Stiel und umrankten die Weinkelche.
»Das ist ja…«, brach Flint los, hielt dann aber inne. Der Diener wartete, bis die Stimme und der Zwerg jeder einen Kelch vom Tablett genommen hatten. Dann erhob Solostaran seinen Kelch.
»Ich trinke auf den Künstler, der dieses Armband und diese Kelche geschaffen hat, und ich hoffe, daß er uns die Ehre zukommen läßt und eine Weile an diesem Hof lebt, um ein paar Dinge speziell für uns herzustellen.« Er nahm einen Schluck und betrachtete Flint dabei aus seinen grünen Mandelaugen.
»Aber das ist…«, setzte Flint wieder an.
»Auf Euch«, endete die Stimme. »Ich habe Aufträge für Euch, wenn Ihr unsere Gastfreundschaft annehmen wollt. Aber darüber können wir auch morgen noch reden. Jetzt trinkt bitte.«