Das Untier brüllte wieder und sang weiter. »Xenothi tibi, Xenothi duodonem, Xenothi viviarandi, toth«, rief es immer wieder.
»Flint, wir müssen die anderen rufen«, sagte der Halbelf.
»Ich glaube, das hat das Monster schon für uns getan«, antwortete der Zwerg, und er zeigte auf die andere Seite des Grabens. Tyresian, Miral und Litanas standen eng beieinander am Rand und wußten sich offenbar nicht zu helfen. Wenn sie über den Graben setzten, würden Pferd und Reiter nur zehn Fuß von dem Monster entfernt landen, also in Reichweite seines tödlichen Peitschenschwanzes. Schon jetzt hatte das nervöse Zucken der Bestie aus den Büschen hinter ihr halbkreisförmig Kleinholz gemacht.
Die drei Fuß langen Hörner auf dem Kopf des Tiers sahen gefährlich aus. Die gelben Augen waren halb geschlossen, als es weitersang: »Xenothi morandibi, Xenothi darme a te vide, toth.« Die Klauen seiner Vorderbeine scharrten auf dem steinigen Boden; Kies flog ins Unterholz.
»Reorx!« rief der Zwerg wieder aus.
Mit entsetzten, glasigen, grauen Augen trat Xenoth aus dem Unterholz auf die Lichtung. Er näherte sich dem Monster, denn er konnte seinem Ruf anscheinend nicht widerstehen. Das Singen wurde stärker. Einer der Adligen auf der anderen Seite des Grabens schrie vor Grauen auf. Tanis erhob sich. »Xenoth!«
Tyresian rief von drüben her: »Halbelf! Bleib, wo du bist!« Aber Tanis sprang über den Stamm und legte im Rennen einen Pfeil auf. Flint folgte ihm mit geschwungener Streitaxt.
Von der Schwanzspitze bis zu seiner schnabelartigen Schnauze war das Tier fast sechzig Fuß lang und war praktisch komplett mit harten Hornschuppen gerüstet. Tanis kniete sich hin, nahm den Bogen und zielte auf den Kopf des Tylors. Sein Pfeil ging in dem Moment los, als der dreißig Fuß lange Schwanz weit links von Tanis durch die Luft zuckte. Das rasiermesserscharfe Ende zerteilte eine junge Espe, um dann den Berater zu treffen. Xenoths Schrei erstarb in einem Gurgeln.
Die Worte »Beweg dich nicht, Tanis!« kamen von der anderen Seite des Grabens. Der Halbelf blieb, wo er war, schoß aber einen zweiten Pfeil auf den Tylor ab.
Plötzlich donnerten Hufe über die matschigen Steine neben Tanis. Miral in seiner roten Tunika jagte auf den Tylor zu und sang beim Reiten. Ein Blitz schoß aus seinen Fingern auf das Tier zu, noch während der Tylor einen neuen Spruch anstimmte.
Die folgende Explosion erschütterte die Lichtung und schickte Tanis und Flint zu Boden. Benommen sahen sie zu, wie der Rest der Jäger über den Graben setzte.
Die Schreie des Tylors gellten durch die Lichtung, während seine Klauen tiefe Kerben in die steinharte Erde rissen. Er versuchte, sich vor dem Pfeilregen, der sich jetzt von der Phalanx des Elfenadels über ihn ergoß, ins Unterholz zu retten. Tanis und Flint konnten nur dasitzen und zusehen.
Schließlich war der Tylor tot. Seine eine Seite war völlig verbrannt, überall in seiner Haut steckten Pfeile, und einer stak aus seinem Auge hervor. Er lag auf der Seite. Nur zehn Fuß von dem Untier entfernt lag Miral auf dem Bauch und richtete den Oberkörper auf. Sein Gesicht war schwarz vor Asche, und eine Hand blutete.
Xenoth lag mit dem Gesicht nach unten tot auf dem schlammigen Felsboden der Lichtung. Blut durchtränkte seine silberne Robe und sickerte in die Erde. Der peitschende Schwanz des Tylors hatte ihm die Brust zermalmt. Litanas, Xenoths Assistent, kniete sich neben ihm hin und rief etwas Unverständliches.
Dann sah es plötzlich so aus, als ob alle Elfen Tanis anstarrten. Selbst Flint schaute ihn mit ungläubigem Blick an. »Was ist denn?« fragte der Halbelf.
Litanas trat beiseite, damit Tanis es sehen konnte.
In Xenoths Herz steckte der Pfeil des Halbelfen.
18
Der Pfeil
Tanis sah von einem Gesicht zum anderen. Überall die gleiche Anklage auf dem Gesichtern. Nur Flint wirkte nicht ganz so überzeugt, daß der Halbelf den Berater getötet hatte.
»Ihr habt es doch gesehen!« schrie Tanis. »Ihr habt es alle gesehen! Ich habe nach rechts geschossen, auf den Körper des Monsters. Xenoth war links, als ihn der Schwanz des Tiers traf. Wie hätte mein Pfeil ihn treffen können?«
»Aber er hat ihn getroffen, Tanis«, sagte Porthios ruhig.
Tyresian machte eine Handbewegung, und mehrere Elfen traten vor, als wenn sie den Halbelfen festnehmen wollten. Mit einem Satz sprang Flint, der immer noch seine Streitaxt umklammerte, zwischen Tanis und seine Häscher. Er erhob die Waffe, funkelte die sich nähernden Elfen wild an und brüllte: »Halt!« Da sie offensichtlich vor dem Anblick eines kampfbereiten Zwergs zurückschreckten, blieben die Adligen stehen.
»Wir haben uns freiwillig zu dieser Expedition gemeldet, obwohl wir wußten, daß wir dabei sterben konnten«, sagte Flint wütend. »Stimmt das etwa nicht?«
Ulthen, der mit Litanas bei Xenoth gekniet hatte, stand auf. Sein Umhang war blutbespritzt. »Aber wir erwarteten, daß uns das Maul des Tylors den Tod bringt, Meister Feuerschmied, nicht einer unserer eigenen Jäger.«
Die Elfen murmelten grimmig. Der Berater war bei vielen Höflingen unbeliebt gewesen, so daß sein Tod kaum echte Trauer hervorrief; schlimmer war eher der Schock darüber, daß er anscheinend von der Hand eines anderen Elfen gekommen war.
»Wer sagt, daß Tanis ihn getötet hat?« hakte Flint nach.
Tyresian seufzte laut. »Es war Tanis’ Pfeil, Meister Feuerschmied. Und jetzt laßt uns…«
Aber Flint beharrte: »Lord Xenoth war schon tot, als der Pfeil ihn traf.«
»Woher wollt Ihr das wissen?« fragte Tyresian höhnisch. Hinter Tyresian hatte Litanas den gelb-roten Pfeil aus Xenoths Brust gezogen und legte seinen Reiseumhang über den Körper seines ehemaligen Vorgesetzten. Einige andere Adlige standen abseits, untersuchten den Körper des Tylors, blickten zu Tanis und Tyresian und unterhielten sich leise.
Flint verschränkte die Arme vor der Brust. Noch immer hielt er die Axt in seiner dicken Hand. »Ich habe es gesehen.«
»Macht Euch nicht lächerl…«
Flint unterbrach ihn und erhob dabei seine Stimme so laut, daß sie über die Lichtung gellte. »Ich war hier, Lord Tyresian. Ihr und die anderen wart auf der anderen Seite des Grabens. Ich konnte besser sehen als ihr.«
»Sie haben gestritten«, sagte Tyresian störrisch. »Tanis hat Xenoth an den Ställen schon fast bedroht. Wer kann sagen, ob sein Menschenblut den Halbelfen nicht zur Rache gedrängt hat? Und wer würde dem Wort eines Zwergs trauen, der außerdem zufällig der beste Freund des Halbelfen ist?« Er drehte sich zu Litanas und Ulthen um. »Bindet ihm die Hände zusammen. Wir kehren nach Qualinost zurück und legen der Stimme der Sonne den Fall vor.«
Aber inzwischen hatte sich Miral, unterstützt von Porthios und Gilthanas, endlich aufgerichtet. Er taumelte vor, wobei er seine blutende Rechte im Mantel verbarg. Seine Augen waren von Schmerz und Zorn überschattet. »Ihr macht einen Fehler, Tyresian.«
Tyresian fuhr auf: »Zauberer, Ihr vergeßt, wer hier der Anführer ist.«
»Das Kommando zu haben, erfüllt Euch nicht gerade mit Weisheit, Lord Tyresian«, erwiderte der Magier.
Flint mischte sich ein. »Laßt uns Lord Xenoths Körper untersuchen. Vielleicht bringt uns das weiter.«
Nach einer langen Pause, während der mehrere Elfen über die Lichtung zur Leiche des Beraters gingen, nickte Tyresian und drängte sich durch die Elfen, die um den Körper herumstanden. Flint folgte ihm. Der Elfenlord kniete sich hin, um Xenoth vorsichtig den Mantel vom Gesicht zu ziehen. Das Antlitz des Beraters war totenstill und überraschend unversehrt. Sein weißes Haar bewegte sich im Wind. Er sah aus, als würde er gleich die Augen aufschlagen und sprechen.
»Weiter, Lord Tyresian«, mahnte Flint. »Seht Euch seine Brust an.«
Der Elfenlord holte tief Luft und zog den Mantel zurück. Der messerscharfe Schwanz des Tylors hatte Xenoths Brust aufgerissen und zerteilt. Gilthanas wurde blaß. Porthios legte seinem Bruder beruhigend die Hand auf den Arm.
»Wo ist der Pfeil?« fragte Flint.
»Hier.« Die Stimme gehörte Litanas, der durch die anderen Elfen herantrat und Tyresian den Pfeil überreichte. Ein volles Drittel des Schafts war blutig. Litanas zeigte mit Zorn in den braunen Augen auf den Schaft. »Das Blut von Lord Xenoth«, sagte er.